Marseille

Vorträge in Marseille
Organisation Berufsethos

Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Rennert

Thesen:

  1. Der Beruf des Richters korrespondiert in den kontinentaleuropäischen Rechtssystemen mit dem geschriebenen Gesetz. Seine Aufgabe war und ist nicht nur Streitentscheidung, sondern Streitentscheidung gerade nach dem Gesetz. Ihm obliegt damit die verbindliche Auskunft über den Inhalt des Gesetzes; dazu ist er besonders qualifiziert – „rechtsgelehrt“. Damit verbindet sich seine spezifische Verantwortung, die Auskunft über den Inhalt des Gesetzes möglichst neutral, getreulich und frei von eigenen Beigaben zu erteilen: „Le juge ne pro-nonce que les paroles de la loi.“ (Montesquieu) Das richterliche Berufsethos buchstabiert diese spezifisch richterliche Verantwortung aus.
  2. In Deutschland gibt es keinen verbindlichen Kanon oder Kodex der richterlichen Berufspflichten. Wichtige Aspekte sind im Gesetz oder sogar in der Verfassung – dem Grundgesetz – normiert; sie sind dann auch sanktioniert, d.h. ihre Missachtung ist mit bestimmten Rechtsfolgen verknüpft. Im übrigen aber obliegt, wie und in welchem Maße ein Richter seiner spezifisch richterlichen Verantwortung gerecht wird, seiner persönlichen Haltung und seinem persönlichen Für-Richtig-Halten. Es handelt sich um autonome, nicht um heteronome Regeln, die deshalb auch ohne rechtliche Sanktion bestehen.
  3. Das richterliche Berufsethos ruht auf dem allgemeineren Berufsethos des Juristen. Dieses wird in Deutschland in der Ausbildung zum „Volljuristen“ in Universitätsstudium und Referendariat vermittelt, die allen juristischen Berufen gemeinsam ist. Hierher zählen vor allem die verfassungsrechtlichen, historischen und philosophischen Grundlagen der Rechtsordnung, ferner Stellung und Funktion der Rechtsprechung im System der Gewaltenteilung, aber auch etwa die Methoden der Gesetzesauslegung.
  4. Das spezifisch richterliche Berufsethos ist darüber hinaus Gegenstand beständiger berufsständischer Diskussion und Vergewisserung. So ist es Gegenstand richterlicher Fortbildungen. Ferner formulieren einzelne Gerichte mitunter Empfehlungen für ihre aktuellen und künftigen Richter. Schließlich befassen
    sich die richterlichen Berufsverbände immer wieder mit Einzelfragen des richterlichen Berufsethos. Alles dies ist aber unverbindlich; es soll jedem einzelnen Richter helfen, ein Problembewusstsein zu entwickeln und zu schärfen.
  5. Wie erwähnt, sind einige wichtige Aspekte in der Verfassung oder im Gesetz normiert. Es handelt sich dann um verbindliche Rechtspflichten, die dann auch sanktioniert sind, deren Missachtung also mit bestimmten Rechtsfolgen verknüpft ist.
  6. Zum einen – und vorrangig – regelt die Verfassung die rechtsprechende Gewalt als Staatsgewalt, überträgt sie den Richtern (und nur den Richtern) und stattet diese mit der nötigen Unabhängigkeit gegenüber den anderen Staatsgewalten aus, insbesondere gegenüber der Exekutive. Weil Personalentscheidungen über Richter in Deutschland von der Exekutive – den Justizministern, teilweise im Zusammenwirken mit Parlamentsausschüssen – getroffen werden, kommt den Grundsätzen der Unversetzbarkeit und Unabsetzbarkeit besondere Bedeutung zu. Wichtig ist aber auch der Grundsatz der Bestenauslese bei Einstellung und Beförderung, bewehrt mit einem Klagerecht übergangener Mitbewerber.
  7. Zum zweiten haben der Bund und die Länder für ihre jeweilige Richterschaft Gesetze erlassen, die das richterliche Berufsrecht regeln. Etliche Vorschriften sollen die richterliche Unabhängigkeit außerhalb konkreter Prozesse sichern. So müssen Richter die Unabhängigkeit anderer Richter respektieren. Bei öf-
    fentlichen Äußerungen sind sie zu besonderer Zurückhaltung verpflichtet; über gerichtsinterne Vorgänge, namentlich über Beratungen, müssen sie Stillschweigen bewahren. Sie dürfen keine Rechtsgutachten erstellen oder sonst entgeltlichen Rechtsrat erteilen. Sie dürfen bestimmte Nebentätigkeiten nur
    mit Genehmigung und andere Nebentätigkeiten gar nicht ausüben. Sie dürfen auch grundsätzlich kein anderes öffentliches Amt ausüben, dies mit wenigen Ausnahmen, und auch kein Parlamentsmandat wahrnehmen. Dienstpflichtverletzungen können disziplinarisch geahndet werden, allerdings wiederum nur durch Richter; dafür bestehen Richterdienstgerichte.
  8. Schließlich regeln die Prozessgesetze Aspekte der richterlichen Neutralität gegenüber den Prozessparteien. So sind Richter von einem Prozess ausgeschlossen, der ihre persönlichen Interessen oder die persönlichen Interessen ihres Partners oder eines nahen Verwandten berührt. Verwaltungsrichter sind ausgeschlossen, wenn sie vor ihrer Ernennung zum Richter an dem angefochtenen Verwaltungsakt mitgewirkt haben; Richter am Rechtsmittelgericht sind ausgeschlossen, wenn sie vor ihrer Beförderung dorthin an dem angefochtenen Urteil des Instanzgerichts mitgewirkt haben. Außerdem regeln die Prozessgesetze, unter welchen Voraussetzungen eine Prozesspartei einen Richter wegen der Besorgnis der Befangenheit ablehnen kann und wie im Falle einer solchen Ablehnung zu verfahren ist. Welches Verhalten eines Richters die Besorgnis seiner Befangenheit begründen kann, ist Gegenstand einer umfangreichen Rechtsprechung, die ein Kaleidoskop richterlicher Verhaltenserwartungen entwirft.
Organisation Berufsethos FR

Laure Ragimbeau-Azaïs

Seit fast 15 Jahren ist die französische Verwaltungsgerichtsbarkeit von einer besonders ausgeprägten ethischen Bewegung betroffen. Sie hat eine Ethikcharta verabschiedet, in der die Grundsätze und bewährten Verfahren dargelegt sind, die von Verwaltungsrichtern erwartet werden, und ein Ethikkollegium eingerichtet, das auf die ethischen Fragen antworten soll, mit denen Verwaltungsrichter in ihrer beruflichen Praxis konfrontiert sein können. Diese Charta und dieses Kollegium tragen dazu bei, die Kenntnis und Förderung der für französische Verwaltungsrichter geltenden ethischen Regeln zu gewährleisten. Ihre Umsetzung ist Teil eines globaleren Kontextes und führt dazu, dass sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit einer deontologischen Bewegung anschließt, die im gesamten französischen öffentlichen Dienst weithin zu beobachten ist, in der ethische Bedenken inzwischen sehr stark ausgeprägt sind und die darin besteht, dass für jede Verwaltung die geltenden ethischen Grundsätze schriftlich formalisiert werden.

In dieser Perspektive wird in diesem Beitrag die Organisation der Ethik des Verwaltungsrichters in Frankreich untersucht, indem sein rechtlicher und institutioneller Rahmen untersucht wird.

I- DIE TEXTLICHE GLIEDERUNG DER DEONTOLOGIE DES FRANZÖSISCHEN
Verwaltungsrichters

Die textliche Organisation der Ethik des französischen Verwaltungsrichters stützt sich auf mehrere Rechtsgrundlagen, von denen heute die Charta der Ethik der Verwaltungsgerichtsbarkeit die wichtigste ist.
Im Jahr 2011 wurde eine Ethikcharta für die Mitglieder der Verwaltungsgerichtsbarkeit erstellt, am Ende eines langen Entwurfsprozesses, der „dem Prinzip der Abstimmung“1 innerhalb der Verwaltungsgerichtsbarkeit „einen großen Platz einräumte“. Von Anfang

1VIGOUROUX C., GONOD P., „Über die Charta der Ethik der Mitglieder der Verwaltungsgerichtsbarkeit“, AJDA 2012 S.875
an war die Ethikcharta als ein Dokument konzipiert, das nicht dazu gedacht war, die Texte, insbesondere die Gesetzestexte, zu ersetzen, die die Ausübung der Funktionen eines Verwaltungsrichters regeln, sondern als ein Instrument konzipiert war, das an die ethischen Grundsätze erinnert, die für diese Ausübung gelten, und bestimmte bewährte Praktiken empfiehlt, die sich aus diesen Grundsätzen ableiten. Die Charta, die auf diese Weise mit einer erzieherischen Dimension ausgestattet ist, zielt vor allem darauf ab, Verstöße gegen ethische Regeln zu verhindern, nicht aber zu sanktionieren. Wie die Charta selbst in Erinnerung ruft, ergeben sich die ethischen Grundsätze für die Ausübung des Amtes der Verwaltungsrichter aus der Verfassung und den Verfassungsgrundsätzen, aus den Verträgen, denen Frankreich beigetreten ist, insbesondere der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, sowie aus den Gesetzen und sonstigen Vorschriften, insbesondere dem Gesetzbuch über die Verwaltungsgerichtsbarkeit (code de justice administrative)— das Wahlgesetzbuch (in dem eine Reihe von Unvereinbarkeiten mit den Funktionen des Verwaltungsrichters aufgeführt sind, wie z. B. die Unvereinbarkeit mit dem Mandat eines Abgeordneten oder Senators) und das Allgemeine Gesetzbuch über den öffentlichen Dienst (code général de la fonction publique). Im Einklang mit diesen Grundsätzen üben die Mitglieder der Verwaltungsgerichtsbarkeit ihr Amt unabhängig, unparteiisch und ehrenhaft aus und verhalten sich so, dass jeder berechtigte Zweifel daran ausgeschlossen ist. Im weiteren Sinne halten sie sich an die Regeln, die für den französischen öffentlichen Dienst gelten: Redlichkeit, Integrität, Loyalität, Verfügbarkeit für ihre Aufgaben, berufliche Diskretion und Verbundenheit mit der Qualität der Dienstleistungen, die den Bürgern und Prozessparteien erbracht werden.
Die Charta, die als ein Dokument gedacht ist, das einer Weiterentwicklung unterworfen ist, wurde bereits geändert, und in ihrer erneuerten Fassung aus dem Jahr 2023 heißt es nun, dass sie „nicht den Ehrgeiz hat, alles vorherzusehen oder zu regeln“2, und dass es sich um „einen Moment in einem lebendigen und kollektiven Werk handelt, das Schritt für Schritt aufgebaut wird“3. Im Rahmen der Änderungen, die in den letzten Jahren an der Charta vorgenommen wurden und von ihrer Fähigkeit zeigen, sich an neue Themen anzupassen, ist die Aktualisierung der bewährten Praktiken, die während des Wahlkampfs anzuwenden sind, die Bedingungen für die Ausübung des

2Charta der Ethik der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Ausgabe 2023, S. 6
3Ebd
Rechtsanwaltsberufs oder eines lokalen politischen Mandats oder die Hinzufügung von Empfehlungen im Jahr 2018, die speziell der Nutzung sozialer Netzwerke durch die Mitglieder der Verwaltungsgerichtsbarkeit gewidmet sind.

Zwar gibt es die Ethikcharta bereits seit 2011, doch ihre rechtliche Verankerung erfolgte erst 5 Jahre später dank des Gesetzes vom 20. April 2016 über die Déontologie und die Rechte und Pflichten des Beamten, mit dem die normative Verankerung der Déontologie des Verwaltungsrichters gefestigt wurde. Die gesetzlichen Bestimmungen des Code de justice administrative über die Verwaltungsgerichtsbarkeit wurden um neue Artikel ergänzt, darunter Artikel L. 131- 44, der der Ethikcharta eine gesetzliche Grundlage gab und die Zuständigkeit des Vizepräsidenten des Conseil d’Etat für die Erstellung dieser Charta festlegte (nachdem er die Stellungnahme des Ethikkollegiums der Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeholt hatte). Der Code de justice administrative legt nun auch ausdrücklich die ethischen Pflichten von Verwaltungsrichtern fest, indem er sie in gleicher Weise in Bezug auf Richter an Verwaltungsgerichten und Verwaltungsberufungsgerichten sowie für Mitglieder des Conseil d’Etat formuliert. Sie alle „erfüllen ihre Pflichten in völliger Unabhängigkeit, Würde, Unparteilichkeit, Integrität und Redlichkeit und verhalten sich so, dass jeder berechtigte Zweifel in dieser Hinsicht ausgeschlossen wird“5. Sie „unterlassen alle Handlungen oder Verhaltensweisen öffentlicher Art, die mit dem ihnen durch ihre Aufgaben auferlegten Vorbehalt unvereinbar sind“ 6 und „dürfen sich nicht zur Unterstützung einer politischen Tätigkeit auf ihre Mitgliedschaft7 im Conseil d’Etat oder in der Verwaltungsgerichtsbarkeit berufen“. Da Verwaltungsrichter nun ausdrücklich aufgefordert werden, dafür zu sorgen, dass Interessenkonflikte vermieden oder sofort beendet werden8, müssen Verwaltungsrichter nach ihrer Beauftragung nun eine Erklärung über ihre Interessen abgeben9.

4CJA, Art. L. 131-4: „Der Vizepräsident des Conseil d’Etat erstellt nach Anhörung des Ethikkollegiums der Verwaltungsgerichtsbarkeit eine Ethikcharta, in der die ethischen Grundsätze und bewährten Praktiken festgelegt sind, die für die Ausübung der Funktionen eines Mitglieds der Verwaltungsgerichtsbarkeit spezifisch sind.“
5CJA, Art.-Nr. L. 231-1-1 (für Richter an Verwaltungsgerichten und Verwaltungsberufungsgerichten) und Art. L. 131- 2 (für die Mitglieder des Conseil d’Etat).
6Ebd
7CJA, Art.-Nr. L. 231-1-1 (für Richter an Verwaltungsgerichten und Verwaltungsberufungsgerichten) und Art. L. 131- 2 (für die Mitglieder des Conseil d’Etat)
8CJA, Art.-Nr. L. 231-4 (für Richter an Verwaltungsgerichten und Verwaltungsberufungsgerichten) und Art. L. 131-3 (für die Mitglieder des Conseil d’Etat)
9CJA, Art.-Nr. L. 231-4-1 (für Richter an Verwaltungsgerichten und Verwaltungsberufungsgerichten) und Art. L. 131- 7 (für die Mitglieder des Conseil d’Etat)
Auch wenn die Ethikcharta des Verwaltungsgerichts daher unbestritten gesetzlich anerkannt ist, stellt sich dennoch die Frage nach ihrem genauen Anwendungsbereich, insbesondere im Hinblick auf ihren normativen Status sowie ihren Zusammenhang mit der Disziplinarmaßnahme, die gegen einen Verwaltungsrichter ergriffen werden kann. In diesem Zusammenhang wurde der Conseil d’Etat in zwei Entscheidungen vom 25. März 2020 veranlasst, den Geltungsbereich der Ethikcharta der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu klären. Nachdem der Conseil d’Etat klargestellt hatte, dass der Charta nicht beabsichtigt, die Grundsätze und Textbestimmungen, insbesondere die gesetzlichen, zu ersetzen, die die Ausübung der Funktionen der Verwaltungsrichter regeln, betonten die Richter des Palais-Royal, dass die Charta „neben der Erinnerung an die für sie geltenden Grundsätze und Verpflichtungen deontologischer Art auch dazu dienen soll, bewährte Praktiken zu empfehlen, die geeignet sind, deren Einhaltung zu gewährleisten“.10 Darüber hinaus wies der Conseil d‘Etat darauf hin, dass „bei der Beurteilung, ob das Verhalten eines Mitglieds des Verwaltungsgerichts einen Verstoß gegen die ihm obliegenden ethischen Verpflichtungen darstellt, die so empfohlenen bewährten Verfahren berücksichtigt werden können, ohne dass ihre Nichtbeachtung für sich genommen einen Disziplinarverstoß darstellt“11. Aus diesen beiden Beschlüssen vom 25. März 2020 lassen sich mehrere Lehren ziehen. Zunächst einmal scheint die Charta hauptsächlich in die Kategorie des „soft law“ zu fallen, da die vom Conseil d’Etat in seiner Jahresstudie 2013 festgelegten Bedingungen für die Identifizierung des „soft law“ erfüllt zu sein scheinen12. Der Zweck der Charta wird voll und ganz bestätigt, der im Wesentlichen darin besteht, das Verhalten der Mitglieder der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu leiten, ohne ihnen selbst Rechte oder Pflichten zu begründen, und gleichzeitig einen Grad an Formalisierung und Strukturierung aufweist, der den Rechtsnormen ähnelt. Ihre Komplementarität mit dem harten Recht wird ausdrücklich unterstrichen, wenn der Conseil d’Etat präzisiert, dass es in der Natur der Empfehlungen der Charta liegt, „im Schweigen des Gesetzes oder der gesetzlichen Vorschriften diejenigen, an die sie gerichtet sind, aufzufordern, alle

10CE, 25. März 2020, Nr. 421149, Syndicat de la juridiction administrative; CE, 25. März 2020, n°411070, Le Gars
11 Ebd
12CE, Le droit souple, La Documentation française, 2013, S. 9
geeigneten Vorkehrungen zu treffen“13. Zwar verweist die Charta immer wieder auf verbindliche Rechtsgrundsätze, die bereits in den Texten des harten Rechts niedergelegt sind, aber die Empfehlungen für bewährte Praktiken, die sie zur Ausweitung dieser Grundsätze ausspricht, sind „soft law“. Darüber hinaus wird ein Element einer Antwort auf die Frage der Artikulation zwischen das Berufsethos des Verwaltungsrichters und der Disziplin gegeben. Auch wenn sich aus diesen beiden Beschlüssen vom 25. März 2020 ableiten lässt, dass die Nichteinhaltung der im Ethikcharta empfohlenen bewährten Praktiken nicht zwangsläufig zur Feststellung eines Disziplinarverstoßes führt, so deutet die vom Conseil d’Etat angenommene Formulierung darauf hin, dass die Charta eine Rolle als „Verhaltensmaßstab 14“ spielt. Sie bietet einen Verhaltensstandard, der nicht an sich, sondern unter anderen Umständen zur Anerkennung eines Fehlverhaltens des Verwaltungsrichters führen kann, das möglicherweise in ein Disziplinarverfahren umgesetzt werden kann.

Die Frage nach dem Geltungsbereich der Ethikcharta der Verwaltungsgerichtsbarkeit führt schließlich zu der Frage nach ihrem Einfluss. In diesem Punkt scheint die Charta derzeit ein Modell zu sein, von dem sich die Zivilgerichtsbarkeit bei der Entwicklung einer eigenen Ethikcharta für den ordentlichen Richter inspirieren lassen will. Gegenwärtig stützt sich die textliche Organisation des Berufsethos der ordentlichen Richter insbesondere auf das „Kompendium der ethischen Pflichten der Richter“, dessen erste Auflage im Jahr 2010 veröffentlicht wurde und das keinen Ethikkodex mit Regelungskraft und starrem Inhalt darstellt, sondern Grundsätze des beruflichen Verhaltens aufzeigt, die um die wichtigsten Werte herum gegliedert sind, die das Verhalten aller Richter leiten sollten. Das Gesetz vom 20. November 2023 über die Öffnung, Modernisierung und Rechenschaftspflicht der Justiz sah jedoch die Schaffung einer Ethikcharta für Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit vor, die vom Conseil supérieur de la magistrature entwickelt und veröffentlicht werden muss, um das derzeitige Kompendium der ethischen Verpflichtungen zu ersetzen. In seinem jährlichen Tätigkeitsbericht für das Jahr 2023-2024 berichtet das Kollegium für Ethik der Richter und Staatsanwälte über die Reflexionselemente, die dem CSM kürzlich im Zusammenhang mit der Entwicklung einer Ethikcharta für Richter und Staatsanwälte

13 CE, 25. März 2020, n°411070, Le Gars
14Um die Formel zu verwenden, die verwendet wird von: DEUMIER P., „La réception du droit souple par l’ordre juridique“, in Association Henri Capitant, Le droit souple, Journées nationales, Tome XIII, Boulogne-sur-Mer, Dalloz, 2009, S.113
übermittelt wurden. Mehrfach wird jedoch die Charta der Ethik der Verwaltungsgerichtsbarkeit als ein Modell angeführt, von dem man sich inspirieren lassen sollte, und zwar sowohl für die Gestaltung der künftigen Charta der Ethik der ordentlichen Richter (mit der Idee, dass ein erster Teil der Charta den „Allgemeinen Grundsätzen“ gewidmet ist) als auch für die Aufnahme bestimmter Stellungnahmen des Ethikkollegiums der ordentlichen Gerichtsbarkeit – mit einem besonderen rechtswissenschaftlichen oder pädagogischen Geltungsbereich Entwicklung der Charta15, wie es im Rahmen der Charta der Ethik der Verwaltungsgerichtsbarkeit der Fall ist.

Es ist daher zulässig, durch dieses Projekt zur Schaffung einer Ethikcharta für ordentliche Richter, die sich direkt an der Ethikcharta der Verwaltungsrichter orientiert, ein Zeichen für den Erfolg der gennanten Charta und einen Beweis für ihre redaktionelle Qualität zu sehen. Während der Ethikcharta daher sicherlich ein wichtiger Bestandteil der Organisation der Ethik innerhalb der Verwaltungsgerichte ist, ist es nun angebracht, sich mit dem Gremium zu befassen, das für seine tägliche Umsetzung zuständig ist, d. h. dem Ethikkollegium der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Mit anderen Worten, es geht nun darum, die institutionelle Organisation der déontologie des französischen Verwaltungsrichters zu betrachten.

II Die institutionelle Organisation der DEONTOLOGIE des französischen Verwaltungsrichters

Nach der Einführung der Ethikcharta im Jahr 2011 wurde im März 2012 ein Ethikkollegium in der Verwaltungsgerichtsbarkeit eingerichtet, um die Anwendung der Charta zu unterstützen und die Verwaltungsrichter über ihre möglichen ethischen Fragen aufzuklären. Seine Autorität wurde sofort von allen anerkannt, insbesondere aufgrund des Vorsitzes durch den ehemaligen Vorsitzenden der Sektion für Rechtsstreitigkeiten, Herrn Daniel Labetoulle16. Wie die Charta erhielt auch das Kollegium die gesetzliche Anerkennung durch das Gesetz vom 20. April 2016 über die

15Jährlicher Tätigkeitsbericht des Kollegiums für Ethik der richterlichen Staatsanwälte, 2023-2024, S. 80 ff.
16Vigouroux, C., „Ethik des Verwaltungsrichters“, RFDA, 2017, S.8
Ethik sowie die Rechte und Pflichten der Beamten, mit dem mehrere Artikel in das Code de justice administrative aufgenommen wurden, die dem Kollegium eine gesetzliche Grundlage geben, sowohl in Bezug auf seine Zusammensetzung als auch auf seine Aufgaben.

Das Ethikkollegium der Verwaltungsgerichtsbarkeit setzt sich zusammen aus:
ein von der Generalversammlung gewähltes Mitglied des Conseil d’Etat
ein Richter an den Verwaltungsgerichten und Verwaltungsberufungsgerichten, der vom Obersten Rat der Verwaltungsgerichte und der Verwaltungsberufungsgerichte gewählt wird (derzeit Frau Dominique Bonmati, Ehrenpräsidentin der Verwaltungsgerichtsbarkeit)
eine externe Person, die abwechselnd vom Ersten Präsidenten der Cour de cassation aus dem Kreis der Richter der Cour oder der Ehrenrichters und vom Ersten Präsidenten Cour des comptes aus dem Kreis der Richter der genannten Cour oder des Ehrenamts ernannt wird (derzeit Herr Didier Guérin, Ehrenpräsident einer Kammer der Cour de cassation)
und eine sachkundige Person, die vom Präsidenten der Republik ausserhalb der Mitglieder des Conseil d’Etat und der Richter der Verwaltungsgerichte und der Verwaltungsberufungsgerichte auf Vorschlag des Vizepräsidenten des Conseil d’Etat (derzeit Professorin Agnès Roblot-Troizier) ernannt wird.
Der Präsident des Ethikkollegiums wird vom Vizepräsidenten des Conseil d’Etat (derzeit Christian Vigouroux, Ehrenpräsident der Sektion des Conseil d’Etat) ernannt, und die Amtszeit der Mitglieder des Ethikkollegiums beträgt drei Jahre und kann einmal verlängert werden.
Die Tatsache, dass innerhalb der Verwaltungsgerichtsbarkeit ein kollegiales Ethikgremium eingerichtet wurde – im Gegensatz zum Ethikbeauftragten der Assemblée nationale, der seinen Auftrag allein ausübt – ist zu begrüßen, denn Kollegialität ermöglicht Diskussion, Debatte und Meinungsaustausch. Auf diese Weise fördert sie die Entwicklung einer ethischen Beratung, die in den Augen ihres Empfängers umso legitimer ist17. Dieses Merkmal findet sich auf der Ebene des 2016 eingerichteten Kollegiums für Ethik der richterlichen Staatsanwälte, das sich aus 5 Mitgliedern zusammensetzt. Die Legitimität des vom Kollegium eingesetzten Ethikrats

17Mamoudy, O., „Die Meinungen und Empfehlungen des Ethikkollegiums der Verwaltungsgerichtsbarkeit“, RFDA 2015, S.368
ist umso wichtiger, als die Standpunkte des Ethikkollegiums rechtlich nicht bindend sind, da sie vor allem darauf abzielen, Verwaltungsrichter zu einem Verhalten zu bewegen, das für ein bestimmtes Thema Referenzwert hat, ohne dass die Nichtbefolgung mit einer Sanktion verbunden ist. Nichtsdestoweniger sind sie mit wirklicher moralischer Autorität ausgestattet18.

Die Aufgaben des Ethikkollegiums der Verwaltungsgerichtsbarkeit sind heute innerhalb des Gesetzbuch der Verwaltungsgerichtsbarkeit (Artikel L. 131-6) klar geregelt. Es ist zuständig für:
Abgabe einer Stellungnahme vor der Erstellung der Ethikcharta durch den Vizepräsidenten des Conseil d’Etat
Stellungnahme zu allen ethischen Fragen, die ein Mitglied der Verwaltungsgerichtsbarkeit persönlich betreffen:
° Diese fakultative Anrufung des Kollegiums steht weitgehend offen, da die Anrufung direkt von dem von der Frage betroffenen Mitglied oder von hierarchischen Behörden erfolgen kann (Anrufung des Vizepräsidenten des Conseil d’Etat, des Präsidenten einer Sektion des Conseil d’Etat, des Generalsekretärs des Conseil d’Etat, des Vorsitzenden der Inspektionsmission der Verwaltungsgerichte, des Präsidenten eines Verwaltungsberufungsgerichts oder eines Verwaltungsgerichts oder des Hohen Rates der Verwaltungsgerichte und Verwaltungsberufungsgerichte)
° Die persönliche Anrufung Verweisung direkt durch einen Richter ist die Hauptquelle für die Tätigkeit des Kollegiums, was zeigt, dass sich Verwaltungsrichter ethische Fragen zu ihrer besonderen Situation stellen und dass sie von Anfang an nicht gezögert haben, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen19.
° Zahlreiche Anträge auf Stellungnahme betrafen die Möglichkeit und die Bedingungen der Ausübung von Nebentätigkeiten, die mit der Funktion eines Mitglieds des Verwaltungsgerichts verbunden sind. Andere betrafen die Möglichkeit, vor oder nach der Ausübung des Amtes als Mitglied des Verwaltungsgerichts andere öffentliche oder private Tätigkeiten auszuüben
Empfehlungen zu formulieren, die den Mitgliedern der Verwaltungsgerichtsbarkeit Aufschluss über die Anwendung der berufsethischen Grundsätze und der Berufsethik-

18ORIZET H., „Überlegungen zum Ethikkollegium der Verwaltungsgerichtsbarkeit“, RDP 2019, Nr. 3, S. 609
19Ebd
Charta geben, und zwar auf eigene Initiative (Selbstbefassung), auf Befassung durch eine hierarchische Behörde (Befassung durch den Vizepräsidenten des Conseil d‘Etat, einen Abteilungsvorsitzenden des Conseil, des Generalsekretärs des Conseil, des Vorsitzenden der Inspektionsmission der Verwaltungsgerichte, des Präsidenten eines Berufungsverwaltungsgerichts oder eines Verwaltungsgerichts, des Obersten Rates der Verwaltungsgerichte und Berufungsverwaltungsgerichte) oder aufgrund einer Befassung durch eine Gewerkschaft oder einen Verband von Mitgliedern der Verwaltungsgerichtsbarkeit.
° Diese Fähigkeit, Empfehlungen abzugeben, wird von seinem Pendant, dem Kollegium für Ethik der ordentlichen Richter, nicht geteilt, das ebenfalls nicht das Recht hat, Fälle an sich selbst zu verweisen.
° Zum Beispiel hat das Deontologiekollegium im Vorfeld der Kommunalwahlen 2020 eine recht umfangreiche Empfehlung abgegeben, die sich insbesondere auf das Prinzip der Kandidatur eines Richters für ein Wahlmandat und die zu beachtenden Vorsichtsmaßnahmen, die Modalitäten der Ausübung eines Wahlmandats oder auch die Bedeutung der Verpflichtung zur Zurückhaltung bei der öffentlichen Meinungsäußerung von Verwaltungsrichtern im Vorfeld der Wahlen bezieht20.
Abgabe von Stellungnahmen zu den Interessenerklärungen, die ihm von den Mitgliedern des Conseil d’Etat und den Richtern der Verwaltungsgerichte und der Verwaltungsberufungsgerichte nach Aufnahme ihrer Tätigkeit übermittelt werden (wenn die Behörde, bei der die Erklärung eingereicht wurde, Zweifel an einem möglichen Interessenkonflikt hat)
Abgabe einer vorherigen Stellungnahme zur Zuweisung eines Richters an ein Verwaltungsgericht, zu dessen Zuständigkeit eine Dienststelle gehört, in deren Hoheitsgebiet der Richter in den letzten drei Jahren bestimmte Verwaltungsaufgaben ausgeübt hat (z. B. eine Leitungsfunktion in der Verwaltung einer lokalen Behörde): Diese Zuständigkeit war bei der Einrichtung des Kollegiums im Jahr 2012 nicht vorgesehen. Er wurde im Jahr 2022 im Anschluss an die Verordnung Nr. 2021-702 vom 2. Juni 2021 über die Reform der höheren Führungsebene des öffentlichen Dienstes des Staates hinzugefügt.

20Ethikkollegium der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Empfehlung Nr. 2019/1 vom 23. September 2019
Das Deontologie-Kollegium veröffentlicht seine Empfehlungen und kann seine Stellungnahmen in anonymer Form veröffentlichen, wenn es der Ansicht ist, dass diese für alle Mitglieder der Verwaltungsgerichtsbarkeit aufschlussreich sind. Seit seiner Einrichtung neigt das Kollegium dazu, alle seine Stellungnahmen zu veröffentlichen, was angesichts der Art und Weise, wie es seine Antworten aufbaut, nicht verwunderlich ist. Es antwortet nämlich fast immer auf persönliche Anfragen, indem es über die Lösung für den Einzelfall, der dem Antrag auf Stellungnahme zugrunde liegt, hinaus allgemeine Regeln aufstellt, die für alle Verwaltungsrichter von Interesse sind. Das Kollegium hat von Anfang an auf einen großen Bedarf an Beratung in ethischen Fragen reagiert und hat nicht gezögert, „die ihm von der Charta übertragenen Aufgaben als Begleiter bewährter Praktiken zu übernehmen“.21
Letztlich sei die Ethik in der Verwaltungsgerichtsbarkeit „reflexiv, dokumentiert und öffentlich“ geworden.22 Es ist zu einem Reflex geworden, der beispielsweise Verwaltungsrichter dazu veranlasst, sich täglich vor jeder Gerichtssitzung über die Notwendigkeit eines Rücktritts zu hinterfragen. Sie wurde durch die Existenz der Ethikcharta und durch die Stellungnahmen des Kollegiums dokumentiert, die, wie wir gesehen haben, der Ethik nun einen soliden und angemessenen rechtlichen und institutionellen Rahmen bieten. Sie ist endlich öffentlich geworden mit ihrer Förderung in der Kommunikation der Institution, die ihre ethischen Bemühungen bekannt machen will, um das Vertrauen der Bürger in sie zu stärken und ihre Legitimität zu begründen, indem sie in den Augen aller zeigt, dass sie die Frage der Ethik ernst nimmt.

21GONOD P., „Sur l’avis n°2012/10 du 1er février 2013 du collège de déontologie des membres de la juridiction administrative“, Les cahiers de la fonction publique, Nr. 331, April 2013, S. 51
22Vigouroux, C., „Ethik des Verwaltungsrichters“, RFDA, 2017, S.8

Organisation Berufsethos IT

Raffaello Sestini

1° table-ronde: Die Organisation der Standesregeln für Verwaltungsrichter – Textquellen und Institutionen in historischer Perspektive

– „Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten.“

Der erste italienische Bericht beginnt mit Artikel 1 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 als Hommage an die Nation, die uns empfängt und der jeder viel zu verdanken hat, so wahr die Freiheitsstatue von Frankreich gestiftet wurde und die Trikolore der italienischen Flagge von der glorreichen Kokarde der Französischen Revolution abstammt. Die Ideen der Französischen Revolution kamen nämlich mit Napoleon nach Italien und gaben Anregung zu den ersten Entwürfen eines geeinten Italiens, auf einem Weg, der nach Ansicht maßgeblicher Historiker in einem benachbarten Gebiet begann, nämlich, d.h. in der Gegend von Oneglia, die an der italienisch-französischen Grenze und nicht weit von Marseille liegt.
– Dasselbe Zitat ist für unsere Arbeit von großem Wert, nicht nur, weil das richterliche Berufsethos eng mit dem Schutz des Bürgers verbunden ist, der im Falle des Verwaltungsrichters die Freiheit und die berechtigten Erwartungen in Bezug auf die Ausübung politischer, administrativer und wirtschaftlicher Macht in einer geregelten Marktwirtschaft betrifft, sondern auch, weil die berufsethischen Regeln nicht nur den Verwaltungsrichter betreffen müssen, sondern alle Richter, und nicht nur alle Richter, sondern auch die Verwaltung und alle Hoheitsträger, um das Gleichgewicht von Staatsgewalt und Freiheit zu wahren.
In diesem Sinne teilt der italienische Verwaltungsrichter mit den anderen Richtern und mit jedem Verwaltungsangestellten die Verpflichtung, die ihm übertragenen öffentlichen Aufgaben gemäß Artikel 54 der Verfassung „mit Disziplin und Ehre“ zu erfüllen, die „unmittelbare Verantwortung“ aller Beamten für rechtswidrige Handlungen gemäß Artikel
28, sowie die Pflicht, die Grundsätze von „guter Leistung und Unparteilichkeit“ der Verwaltung zu beachten, die in Artikel 97 verankert sind, unter Berücksichtigung der Bestimmungen von Artikel 101 der Verfassung, wonach „die Richter nur dem Gesetz unterworfen sind“.
– Die Disziplinarvorschriften für die Verwaltungsrichter haben somit ihre Quelle in den Verfassungsbestimmungen, die ihren rechtlichen Status und ihre Rolle regeln, in den Gesetzen des Staates, die die Ausübung richterlicher Funktionen regeln, aber auch in den Gesetzen, die sich mit der Frage der vorläufigen Maßnahmen und den Folgen im Falle der Beteiligung des Richters an einer Straftat und einem Strafverfahren befassen. Es handelt sich also um spezifische Vorschriften, die darauf abzielen, die korrekte Ausübung der richterlichen Gewalt durch den einzelnen Richter zum Schutz von Kollegen, Parteien und ihren Anwälten durch die Festlegung von Sanktionen zu gewährleisten, die bis zur Amtsenthebung des Richters gehen können.
– Die wichtigsten Disziplinarvorschriften für die Richter der regionalen Verwaltungsgerichte und des Staatsrats sind in den Art. 32, 33 und 34 des Gesetzes Nr. 186 von 1982 (Verordnung über die Verwaltungsgerichtsbarkeit) enthalten. Diese Bestimmungen werden im Wesentlichen in den Artikeln 39 bis 43 der Geschäftsordnung für die Arbeitsweise des Präsidialrats für Verwaltungsgerichtsbarkeit übernommen, d. h. des Selbstverwaltungsorgans, dem auch die Disziplinarverfahren der Richter der regionalen Verwaltungsgerichte und des Staatsrats obliegen.
– Das Disziplinarverfahren unterliegt dem Verwaltungsrecht, und das Dekret, durch das es geregelt ist, ist ein Verwaltungsakt, der vor dem regionalen Verwaltungsgericht und dem Staatsrat angefochten werden kann. Anders verhält es sich mit dem Disziplinarverfahren der italienischen Zivil- und Strafrichter, das vor der ordentlichen Gerichtsbarkeit stattfindet und mit einem Urteil endet, gegen das Berufung und Revision (cassazione) eingelegt werden können.
Insbesondere:

das Verfahren wird vom Präsidenten des Ministerrats oder vom Präsidenten des Staatsrats eingeleitet;
Der Präsidialrat für Verwaltungsgerichtsbarkeit beauftragt innerhalb von 10 Tagen eine aus drei seiner Mitglieder bestehende Kommission, die Voruntersuchungen durchzuführen, die innerhalb von 30 Tagen abgeschlossen sein müssen;
Auf der Grundlage der Voruntersuchungen legt der Präsidialrat den Sachverhalt dem Richter vor mit der Aufforderung, innerhalb von 30 Tagen eine Stellungnahme abzugeben;
Nach Eingang der Stellungnahme, in jedem Fall aber nach Ablauf von 30 Tagen, beauftragt der Rat des Präsidenten, sofern das Verfahren nicht eingestellt wird, seine II. Fachkommission, die über besondere Disziplinarbefugnisse verfügt, mit der Untersuchung fortzufahren, die innerhalb von 90 Tagen abgeschlossen sein muss.
Der Präsident des Staatsrats setzt dem Rat des Präsidenten den Termin für die Erörterung fest, per Dekret, das dem Betroffenen mindestens vierzig Tage im Voraus zuzustellen ist; dieser kann spätestens zehn Tage vor der Verhandlung Akteneinsicht nehmen, Kopien erstellen und eine Verteidigungsschrift einreichen.
In der für die Diskussion anberaumten Sitzung trägt das dienstälteste Mitglied der II. Fachkommission den Bericht vor. Der Richter, gegen den ermittelt wird, hat zuletzt das Wort und hat das Recht, sich von einem anderen Richter unterstützen zu lassen. In diesem Zusammenhang erklärte das Verfassungsgericht mit Urteil Nr. 87 aus dem Jahr 2009 die Ungültigkeit des Verbots für den Richter, sich von einem Rechtsanwalt unterstützen zu lassen;
– Für die nicht geregelten Aspekte bezieht sich Art. 32 desselben Gesetzes Nr. 186 auf die geltenden Rechtsvorschriften für ordentliche Richter, aber Art. 30 schließt das Gesetzesdekret Nr. 109 von 2016 aus, das die Fälle von Disziplinarvergehen und Strafen für ordentliche Richter vorsieht, so dass die alten Bestimmungen des Königlichen Gesetzesdekrets Nr. 51 von 1946 und des Präsidialdekrets Nr. 916 von 1958 für diese Aspekte weiterhin angewendet werden.
Insbesondere gemäß Art. 18 des Königlichen Gesetzesdekrets von 1946 „wird der Richter, der seine Pflichten nicht erfüllt oder bei der Amtsausübung oder außerhalb des Amtes ein Verhalten an den Tag legt, das ihn des Vertrauens und der Achtung, die er genießen muss, unwürdig macht oder das Ansehen der Gerichtsbarkeit gefährdet, mit Disziplinarstrafen belegt“, die gemäß dem folgenden Art. 19 “ sind: 1) Verwarnung; 2) Verweis; 3) Zurückstufung beim Dienstalter; 4) Entfernung; 5) Entlassung … Der Richter (…) hat kein Recht, sich einem Disziplinarverfahren und den daraus resultierenden Maßnahmen durch Kündigung zu entziehen.“
– Im Übrigen heißt es in Art. 13 Abs. 4 des Gesetzes Nr. 186: „Artikel 5 der Verordnung Nr. 1054 vom 26. Juni 1924 gilt für die in diesem Gesetz genannten Richter“. Daher
können Verwaltungsrichter „nicht suspendiert werden, es sei denn, sie haben ihr Amt vernachlässigt oder sich unregelmäßig und verwerflich verhalten“ und „können nicht ihres Amtes enthoben werden, es sei denn, sie haben sich geweigert, eine durch Gesetze oder Verordnungen auferlegte Pflicht ihres Amtes zu erfüllen; wenn sie gewohnheitsmäßige Fahrlässigkeit an den Tag gelegt oder aufgrund schwerwiegender Vorfälle ihren persönlichen Ruf oder die Würde des Spruchkörpers, dem sie angehören, gefährdet haben“. Die genannten Maßnahmen werden „nach Anhörung der Stellungnahme des Staatsrats in der Generalversammlung und nach Beratung des Ministerrates“ erlassen.
– Die oben erwähnte Rekonstruktion führt zu einem „verworrenen und inhomogenen Regelungsrahmen“, wie auch der Präsidialrat für die Verwaltungsgerichtsbarkeit einräumt, der mehrfach eingegriffen hat, um Klarheit zu schaffen.
In diesem Sinne regelte die mit Dekret vom 6. Februar 2004 angenommene Geschäftsordnung für die Arbeitsweise des Präsidialrats die „Bearbeitung von Beschwerden“; per Beschluss des Präsidialrats vom 28. Januar 2005 wurde die Regelung für Fälle der „Unvereinbarkeit von Richtern, die erfolgreich an Auswahlverfahren teilgenommen haben“ neu geregelt, und im Runderlass vom 31. Mai 2007 wurden die „Regelungskriterien für die vorsorgliche Suspendierung vom Dienst infolge eines Strafverfahrens“ festgelegt, während im Runderlass vom 12. Oktober 2006 die Regelung für Fälle der „territorialen Unvereinbarkeit von Verwaltungsrichtern“ geklärt werden musste, die bis dahin 55 Jahre lang durch einen königlichen Erlass, ein königliches Gesetzesdekret und zwei andere Gesetze ohne angemessene Koordinierung bestimmt wurde.
Derselbe Präsidialrat hat mit einer Resolution vom 8. Februar 2013, ergänzt durch eine Resolution vom 6. November 2015, auch einen Vorschlag für ein Reformgesetz mit einem ausführlichen erläuternden Bericht angenommen, eine solche Reform steht jedoch bis heute aus.
– Die Situation ist umso komplexer, als es weitere Regeln der richterlichen Ethik gibt, die der Verwaltungsrichter in seiner beruflichen Tätigkeit, aber auch in seinem alltäglichen und privaten Betragen beachten muss, und auch die Einhaltung dieser ethischen Anforderungen eine wesentliche Pflicht jedes Richters ist, und zwar im Zusammenhang mit der Notwendigkeit, seine Verantwortung nicht nur gegenüber den Parteien, Anwälten und Kollegen zu gewährleisten, sondern vor der gesamten Zivilgesellschaft. In vielen Ländern haben sich daher Berufsverbände von Richtern und Rechtsanwälten bemüht, die Grundsätze ethischen Verhaltens in schriftlicher Form zu verankern, im Einklang mit den
Bangalorer Grundsätzen richterlichen Verhaltens, die mit der Resolution Nr. 2006/23 des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen vom 27. Juli 2006 angenommen wurden.
– In Italien regelt das öffentliche Beschäftigungssystem in Art. 54 der Gesetzesverordnung Nr. 165 vom 30. März 2001 in der durch Art. 1 Abs. 44 des Gesetzes Nr. 190 von 2012 ersetzten Fassung den Erlass von Verhaltenskodizes für alle Bediensteten des öffentlichen Dienstes. Für die Justiz ist die Annahme eines solchen Ethikkodex im letzten Absatz von Art. 58 bis des Gesetzesdekrets Nr. 29 von 1993 vorgesehen.
Der bereits erwähnte Artikel 54 besagt insbesondere:

„(1) Die Regierung legt einen Verhaltenskodex für die Bediensteten der öffentlichen Verwaltungen fest, um die Qualität der Dienstleistungen, die Korruptionsprävention, die Einhaltung der verfassungsmäßigen Pflichten der Sorgfalt, Loyalität, Unparteilichkeit und ausschließlichen Dienst am Gemeinwohl zu gewährleisten (…) und sieht in jedem Fall das Verbot für alle Bediensteten des öffentlichen Dienstes vor, aus irgendeinem Grund Vergütungen, Geschenke oder andere Vorteile zu verlangen oder anzunehmen (…);
(2) Der per Präsidialdekret verabschiedete Verhaltenskodex … wird im Amtsblatt veröffentlicht und dem Bediensteten ausgehändigt, der es zum Zeitpunkt der Einstellung unterschreibt.
3. Verstöße gegen die im Verhaltenskodex enthaltenen Pflichten, einschließlich derjenigen im Zusammenhang mit der Umsetzung des Plans zur Korruptionsprävention, werden disziplinarrechtlich geahndet. Die Pflichtverletzung ist auch für die zivil-, verwaltungsrechtliche und buchhalterische Haftung relevant …
(4) Für jede Gerichtsbarkeit und die Rechtsvertretung des Staates (avvocatura dello Stato) verabschieden die Organe der Berufsverbände einen Ethikkodex, an den sich die Angehörigen der entsprechenden Institutionen halten müssen. Im Falle der Untätigkeit wird der Kodex vom Selbstverwaltungsorgan verabschiedet.“
– Für die Verwaltungsgerichtsbarkeit gilt der Ethikkodex für Mitglieder des Staatsrats (verabschiedet am 28. April 1994 und geändert am 6. Juni 2007 durch die Generalversammlung der Vereinigung der Mitglieder des Staatsrats), für die Richter der regionalen Verwaltungsgerichte (angenommen am 13. Mai 1994 und geändert von der Generalversammlung am 22. Oktober 2021) und schließlich der Mitglieder des
Präsidialrats für Verwaltungsgerichtsbarkeit (angenommen durch die Resolution des Präsidialrats der Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 16. April 2010).
Die genannten Kodizes unterscheiden sich voneinander und setzen ähnliche Regeln fest hinsichtlich der Kriterien für das Verhalten als Richter sowie im gesellschaftlichen Leben, der Kosten für berufliche Fortbildung und der Wahrnehmung externer Aufgaben.
Da zudem die Regeln des Ethikkodex der Richter des Staatsrates laut dessen Präambel
„nicht das Wesen und die Wirkung von Rechtsnormen haben“, sind sie „ausschließlich dem Gewissen jedes einzelnen Richters“ anvertraut. „Der Kodex hat daher keine normative Kraft und Wirkung als öffentliche Rechtsquelle“ und ein Verstoß „wird nicht geahndet“.
– Im Ergebnis ist festzustellen, dass die ethische Dimension des beruflichen und privaten Verhaltens des Verwaltungsrichters, die in den genannten „Ethikkodizes“ vorgesehen (aber nicht sanktioniert) wird, weiter gefasst ist als die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit desselben Richters und sich von dieser unterscheidet; letztere betrifft vor allem die Ausübung richterlicher Funktionen und die Beziehungen zu Kollegen, zu den Verfahrensparteien und zu ihren Anwälten.
Der Anknüpfungspunkt zwischen den beiden Profilen besteht jedoch darin, dass ein Verhalten, das eine Straftat darstellt (typisches Beispiel Korruption) oder das einen Verstoß gegen die sowohl im Gesetz als auch im Ethikkodex vorgesehenen Pflichten und Verhaltensregeln beinhaltet, dennoch auch als Disziplinarvergehen oder als Kriterium bei der Vergabe neuer Aufgaben oder der Genehmigung neuer Tätigkeiten relevant sein kann, mit dem gemeinsamen Ziel, die Glaubwürdigkeit des einzelnen Richters und der gesamten Verwaltungsgerichtsbarkeit zu gewährleisten. Daher ist es das Bedürfnis nach Glaubwürdigkeit, das den gemeinsamen Nenner des allzu komplexen Bildes bildet, das hier für Italien skizziert wurde.

Unparteilichkeit
Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Rennert

Thesen:

  1. Das deutsche Recht unterscheidet zwischen dem Grundsatz der Unparteilichkeit und dem Grundsatz der Unabhängigkeit des Richters. Der Grundsatz der Unparteilichkeit beherrscht das Verhältnis des Richters zu den Prozessbeteiligten; ihnen gegenüber soll der Richter neutraler Dritter sein. Der Grundsatz der Unabhängigkeit gilt für das Verhältnis des Richters – auch des Gerichts und der gesamten Gerichtsbarkeit – zu den anderen Staatsgewalten, insbesondere zur Exekutive; er ist Bestandteil des Grundsatzes der Gewaltenteilung. Weil im Verwaltungsprozess regelmäßig Behörden beteiligt sind, überschneiden sich hier beide Grundsätze.
  2. Zwingende Rechtssätze werden in Deutschland durch Sätze des richterlichen Berufsethos ergänzt, die ihrerseits nicht zwingend sind, sondern berufspraktische Erfahrungen aufspeichern und Empfehlungscharakter tragen.
  3. Dem Grundsatz der Unparteilichkeit (Neutralität) wird im Vorfeld konkreter Prozesse nur am Rande Beachtung geschenkt. Viele Richter sind mit Rechtsanwälten verheiratet; die Personalpolitik der Justizministerien sucht dann eine Tätigkeit beider Ehegatten in demselben Gerichtsbezirk zu vermeiden. Das ist aber kein rechtliches Hindernis, sondern bloße Klugheitsregel. Eine spätere Eheschließung könnte ohnehin nicht verhindert werden.
  4. Niemand darf Richter in eigener Sache sein. Ein Richter ist deshalb von der Mitwirkung in Sachen kraft Gesetzes ausgeschlossen, in denen er selbst Partei ist oder die ihm selbst einen unmittelbaren oder mittelbaren Vor- oder Nach-teil bringen kann; ebenso in Sachen, in denen er in früherer Instanz oder als Organ einer Behörde oder der Staatsanwaltschaft oder als Schiedsrichter oder Mediator tätig geworden war; schließlich in Sachen, in denen er selbst als Zeuge oder Sachverständiger vernommen wurde oder werden soll.
  5. Niemand darf ferner Richter in einer Sache sein, an der sein gegenwärtiger oder früherer Ehegatte oder Partner oder ein naher Angehöriger (Verwandter oder Verschwägerter bis zu einem bestimmten Grad) als Partei oder als Bevollmächtigter (insb. als Rechtsanwalt) beteiligt ist.
  6. Darüber hinaus kann ein Richter wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Der Richter muss nicht tatsächlich befangen sein; genügend, aber auch erforderlich ist, dass ein Grund vorliegt, der geeignet ist, in den Augen eines verständigen Dritten Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Zu dieser mit Absicht weit gefassten Klausel besteht eine reichhaltige Rechtsprechung. Über das Ablehnungsgesuch einer Partei entscheidet das Gericht ohne Mitwirkung des abgelehnten Richters, sofern das Gesuch nicht offensichtlich missbräuchlich angebracht wird. Ein Richter kann einen Ablehnungsgrund auch selbst anzeigen.
  7. Der Ausschluss als befangen gilt den meisten Richtern zugleich als ehrenrührig; sie suchen deshalb schon den fernliegenden Anschein der Befangenheit zu vermeiden. Manchmal schlägt das in eine Art negativer Befangenheit um.
  8. Demgegenüber begründet eine offene Verfahrensführung – anders als in anderen Ländern – in Deutschland keine Zweifel an der Unparteilichkeit des Richters; wie etwa die telefonische Vorbereitung eines Verhandlungstermins mit einem Rechtsanwalt, sofern die Gegenseite sofort und vollständig informiert wird; wie ferner die Offenlegung der – selbstverständlich erst vorläufigen – Beurteilung der Sache im Verhandlungstermin; wie schließlich der Hinweis des Gerichts auf Punkte, die die Beteiligten offenbar übersehen haben, auch wenn von dem Hinweis nur die eine Seite profitiert (etwa der Hinweis auf eine bereits eingetretene Verjährung).
  9. Der Grundsatz der Unabhängigkeit des Richters – auch des Gerichts und der Gerichtsbarkeit – ist Ausfluss des Verfassungsprinzips der Gewaltenteilung.
  10. In Deutschland liegt die Personalhoheit über die Richterschaft bei den „politi-schen“ Gewalten, nämlich bei den Justizministern des Bundes und der Länder (Exekutive), oft im Zusammenwirken mit Richterwahlausschüssen des jeweiligen Parlaments (Bundestag oder Landtag). Ist ein Richter einmal ernannt, so wird seine Unabhängigkeit durch die Verfassungssätze der Unversetzbarkeit und der Unabsetzbarkeit sowie durch das Lebenszeitprinzip geschützt, bei den auf Zeit (zwölf Jahre) gewählten Bundesverfassungsrichtern durch das Verbot der Wiederwahl. Der Einfluss der „politischen“ Gewalten bei der Richterernennung ist demgegenüber erwünscht, um die demokratische Legitimation der Richterschaft zu vermitteln; dass hierbei nicht nur politische, sondern auch und vor allem fachliche Gesichtspunkte ausschlaggebend sind, soll das Verfassungsgebot der Bestenauslese gewährleisten. Bei Verwaltungsrichtern (und insb. bei Finanzrichtern) ist Verwaltungserfahrung erwünscht; hier gibt es herkömmlich einen Personalaustausch mit der Exekutive, wenngleich mit abnehmender Tendenz.
  11. Richter dürfen politischen Parteien angehören und dort auch aktiv werden. Allerdings wird von ihnen Zurückhaltung im öffentlichen Auftreten erwartet, nicht anders als von Beamten. In der Praxis bedeutsam ist die parteiinterne Beratertätigkeit.
  12. Es gelten aber Inkompatibilitäten, die sich nicht nur, aber besonders bei Verwaltungsrichtern auswirken. Kein Richter darf zugleich ein Mandat in einem Parlament oder ein öffentliches Amt in einer Behörde ausüben; die Ansicht des Bundesgerichtshofs, dass ein Kommunalmandat ausgeübt werden dürfe, ist nachdrücklich zu kritisieren. Kein Richter darf ein Gutachten oder eine bezahlte gutachtliche Stellungnahme erteilen, auch nicht dem Gesetzgeber oder der Regierung. Unbezahlte Stellungnahmen sind hingegen nicht verboten. Sie sollten aber – entgegen verbreiteter Praxis – nicht von einzelnen Richtern, sondern – als dienstliche Äußerungen – nur von dem Gericht als solchem, vertreten durch seinen Präsidenten, erstattet werden.
  13. Das Nebentätigkeitsrecht soll nicht nur die Arbeitskraft des Richters auf das Richteramt konzentrieren, sondern auch verhindern, dass der Richter in fremde Abhängigkeiten gerät. Bestimmte Nebentätigkeiten sind erlaubt, einige sogar erwünscht (wie etwa Tätigkeiten in der Juristenausbildung oder als Gesetzeskommentator), andere sind verboten oder bedürfen der Genehmigung.
  14. Der Richter ist auch von anderen Richtern unabhängig. Das gilt zunächst innerhalb des eigenen Spruchkörpers (der Kammer oder des Senats), auch gegenüber dessen Vorsitzendem; so hat jedes Mitglied des Spruchkörpers gleches Rede- und Stimmrecht, der Vorsitzende ist nur „primus inter pares“. Es gilt ferner innerhalb des Gerichts, auch gegenüber dem Gerichtspräsidenten; dieser darf deshalb die Rechtsauffassung eines Richters nicht kritisieren, auch nicht im Rahmen einer dienstlichen Beurteilung. Es gilt schließlich auch innerhalb der eigenen Gerichtsbarkeit, besonders gegenüber der höheren Instanz; jeder Richter ist deshalb frei, der Rechtsauffassung der höheren Instanz zu folgen oder ihr zu widersprechen (muss bei Dissens aber ein gesetzlich statthaftes Rechtsmittel zulassen).
Unparteilichkeit FR

Mme Dominique BONMATI, ancienne présidente du tribunal
administratif de Marseille et membre du collège de déontologie,

Die Ethik des Verwaltungsrichters

Runder Tisch Nr. 2: Der Grundsatz der Unparteilichkeit

In seiner Antrittsrede am 13. Januar 2022 erklärte der Vizepräsident des Staatsrates, Herr Tabuteau: “ In unserer Aufgabe als Verwaltungsrichter (…) Wir müssen ohne Zugeständnisse und Kleinmütigkeit unsere Unabhängigkeit und Unparteilichkeit verteidigen und bekräftigen. Diese Werte sind für die Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit unerlässlich. Der Präsident der Republik hat dies hervorgehoben (…): Der Staat schwächt sich nicht selbst, indem er sein Handeln der Kontrolle des Richters unterwirft, sondern er wird im Gegenteil durch sein Festhalten an der Achtung der Rechtsstaatlichkeit gestärkt. (…) Den Verwaltungsrichter zeichnet sich dadurch aus, dass er die Zwänge des öffentlichen Handelns versteht und kennt. Er ist nicht nur ein Rechtstheoretiker; er ist sich der konkreten Probleme bewusst, die auf dem Spiel stehen, und bemüht sich in den bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten und in der von ihm entwickelten Rechtsprechung um Lösungen, die die Einhaltung der Rechtsvorschriften und gleichzeitig die Wirksamkeit des öffentlichen Handelns gewährleisten. (…) In seiner beratenden Funktion gibt der „Conseil d’Etat“ (…) unabhängige Stellungnahmen, die klar darlegen, was möglich ist und was nicht, mit dem Ziel, öffentliche Entscheidungen zu sichern, d.h. Rechtswidrigkeiten oder auch Verfassungswidrigkeiten, die Rechte und Freiheiten verletzen würden, zu verhindern. Unsere Dualität der Funktionen (Regierung beraten und Streitsache entscheinden)
,wird noch zu oft missverstanden. Es ist jedoch (…) eine Stärke unseres Rechtssystems, vor der öffentlichen Entscheidung durch eine unabhängige Stellungnahme eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit der wichtigsten Handlungen zu gewährleisten“.

Als Erben der Conseils de préfecture wurden die Verwaltungsgerichte vor etwas mehr als 70 Jahren zu den ordentlichen Richtern in Verwaltungsstreitigkeiten. Trotz des Gesetzes vom 24. Mai 1872, das sie, wie der Conseil d‘Etat, als wirkliche
Gerichtsbarkeit etabliert hatte, galten sie lange Zeit als eine Art Zerstückelung der Verwaltung, die sich selbst paradoxerweise beurteilt, bis ihre Unabhängigkeit als Teil einer bestimmten Ordnung der Gerichtsbarkeit als Grundprinzip der Gesetze der Republik anerkannt wurde (Rechtsprechung des Conseil constitutionnel, 22. Juli 1980 , 23. Januar 1987).

Zwei Jahrhunderte Prozesspraxis haben auch ein starkes Berufsethos geschmiedet und gefestigt, der die Glaubwürdigkeit und Legitimität des Justizsystems begründet und einen echten Schutz der Grundrechte der Bürger gegenüber der Verwaltung garantiert.

Die Ethik des Verwaltungsrichters beruht somit u. a. auf den beiden Grundprinzipien der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit, die sich, wie die Rechtsprechung des Conseil d‘Etat zeigt, immer nur schwer zu unterscheiden und sogar zu trennen sind.

Unabhängigkeit

Der Verwaltungsrichter muss vor jeglichem Druck von außen, sei es politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Art, geschützt werden. Die Unabhängigkeit stellt sicher, dass die Entscheidungen des Richters nicht von externen Erwägungen beeinflusst werden, sondern ausschließlich durch das Gesetz und die Tatsachen motiviert sind.

Diese Unabhängigkeit wird insbesondere durch den Schutz eines Gesetzesstatuts verkörpert, das einen Hohen Rat einrichtet und seinen Mitglieder garantiert, dass sie weder willkürlich entlassen noch versetzt werden können, und das Vertrauen der Bürger in die Gerechtigkeit der getroffenen Entscheidungen bewahrt. (Artikel L.231-3 des CJA: “ Richterinnen und Richter an
Verwaltungsgerichten und „cours administratives d’appel“ dürfen bei der Ausübung ihres Amtes als Richterinnen und Richter der Verwaltungsbarkeit ohne ihre Zustimmung keine neue Versetzung erhalten, auch nicht im Rahmen einer Beförderung…)

Die Mitglieder der Verwaltungsgerichte und der Verwaltungsberufungsgerichte sind Richterinnen und Richter, deren Status dem CJA und, soweit sie nicht im Widerspruch zu diesem stehen, dem Code général de la fonction publique, unterliegt.

In Artikel L231-1-1 des CJA heißt es: „Die Richter der Verwaltungsgerichte und der Verwaltungsberufungsgerichte üben ihr Amt in völliger Unabhängigkeit, Würde, Unparteilichkeit, Integrität und Redlichkeit aus und verhalten sich so, dass jeder berechtigte Zweifel in dieser Hinsicht ausgeschlossen wird. »
In Artikel L.231-4 heißt es weiter: „Die Richter der Verwaltungsgerichte und der Verwaltungsberufungsgerichte sorgen dafür, dass Interessenkonflikte vermieden oder unverzüglich beendet werden. Ein Interessenkonflikt ist jede Situation der Interferenz zwischen einem öffentlichen Interesse und öffentlichen oder privaten Interessen, die geeignet ist, die unabhängige, unparteiische und objektive Ausübung einer Funktion zu beeinflussen oder zu beeinflussen“.
Diese Bestimmungen entsprechen denen des code de la fonction publique über den öffentlichen Dienst:
L.121-1: „Der Beamte hat sein Amt mit Würde, Unparteilichkeit, Integrität und Redlichkeit auszuüben. »
L.122-4: „Um einen Interessenkonflikt im Sinne von Artikel L. 121-5 zu beenden oder zu verhindern, muss ein Beamter, der sich in einer solchen Situation befindet, (…) 4. Wenn er richterliche Funktionen ausübt, wird er nach den für sein Gericht geltenden Regeln ersetz (…)“.

Die behauptete und praktizierte Unabhängigkeit ist auch die Grundlage für die Leichtigkeit des Dialogs, den er sowohl gerichtlich als auch außergerichtlich mit den Verwaltungsbehörden pflegt, denen er die Markierung für die Rechtmäßigkeit übergibt.

Und gerade in diesem ständigen Dialog, der sich in der Dualität seiner Funktionen als Richter und beratende Instanz verkörpert, liegt ein großer Teil des Problems des Grundsatzes der Unparteilichkeit.

Die beratende Funktion des Conseil d‘Etat ist natürlich die bekannteste, und darüber hinaus widmet die Institution ihr fünf der sieben Abteilungen, aus denen sie besteht, aber diese Funktion wird auch den Verwaltungsgerichten und den Verwaltungsberufungsgerichten durch Artikel L.212-1 des Gesetzbuchs der Verwaltungsgerichtsbarkeit zugewiesen, in dem es heißt: “ Die Verwaltungsgerichte und die Verwaltungsberufungsgerichte üben neben ihren Zuständigkeiten eine beratende Funktion aus. „.

Sie sind in den Artikeln R.212-1 bis R.212-4 desselben Gesetzbuchs festgelegt, in denen die Verfahren für die Einholung von Stellungnahmen von Präfekten und die Beteiligung von Richtern zur Unterstützung einer staatlichen Verwaltung festgelegt sind. Schließlich heißt es in Artikel R.237-1 auch: „Unabhängig von den ihnen übertragenen richterlichen Aufgaben können die Mitglieder des Organs der Verwaltungsgerichte und der Verwaltungsberufungsgerichte mit Genehmigung des Präsidenten des Gerichts, dem sie angehören, an bestimmten Arbeiten der öffentlichen Verwaltungen teilnehmen.“

Zu diesen institutionellen Beratungsfunktionen kommen die häufigen Wechsel von Mitgliedern des Conseil d’Etat und von Verwaltungsrichtern in die aktive Verwaltung hinzu, die durch die jüngste Reform des INSP (früher ENA) noch verstärkt wurden, indem die Zahl der durch der gesetzlich vorgeschriebenen funktionalen „Mobilitäten“, insbesondere von Richtern der Verwaltungsgerichte, um ein Vielfaches erhöht wurde.
Diese Besonderheiten der Verwaltungsgerichtsbarkeit bestimmen und erklären die Aufmerksamkeit, die speziell dem Grundsatz der Unparteilichkeit gewidmet wird.

Unpartlichkeit

Ein Prinzip, das sowohl ethisch als auch rechtlich ist, „die Seele des Richters“, „der Mut des Richters“, „das Gewissen des Richters“, „die intellektuelle Strenge des Richters“, „der Beruf des Richters“, „die Ehre des Richters“, wie Simone Rozès, der damalige erste Präsident der Cour de cassation, es 1988 beschrieb, es ist „untrennbar mit der Ausübung richterlicher Funktionen verbunden“ (Conseil constitutionnel – 2006-545 DC, 28. Dezember 2006).

Als Garant für die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns muss der Verwaltungsrichter ohne Vorurteile oder Günstlingswirtschaft urteilen, um jedem Bürger die Gleichbehandlung vor dem Gesetz zu ermöglichen.

Dies ist die Bedeutung des Eides, den er gemäß Artikel L.12 des Verwaltungsgerichtsgesetzbuches leistet, der sich aus Artikel
52 des Gesetzes vom 20. November 2023 über die Ausrichtung und Programmierung der Justiz ergibt und wie folgt ausgesprochen wird: „Ich verspreche, meine Pflichten in völliger Unabhängigkeit, Redlichkeit und Unparteilichkeit auszuüben, das Beratungsgeheimnis zu wahren und mich in allem mit Ehre und Würde zu verhalten. „.

Die Unparteilichkeit beschränkt sich nicht nur auf die scheinbare Neutralität des Richters, sondern umfasst:

die Handhabung von Interessenkonflikten, die sich nach den im Wahlgesetz festgelegten Regeln der Nichtwählbarkeit und Unvereinbarkeit richten, Vorbehalte der Vereinbarkeit von Funktionen oder Zuständigkeiten während des
Übergangs zwischen dem Gericht und der aktiven Verwaltung: Artikel L. 231-5 und L. 231-5-1 des Gesetzbuchs über die Verwaltungsgerichtsbarkeit;

die im Gesetzbuch der Verwaltungsgerichtsbarkeit und im Allgemeinen Gesetzbuch des öffentlichen Dienstes festgelegten Regeln für die nichtmitwirkung und den freiwillige Abstand des Richters: Artikel R.721-1 des CJA: „Ein Mitglied des Gerichts, das in seiner Person einen Ablehnungsgrund annimmt oder aus Gewissensgründen der Meinung ist, dass es sich der Stimme enthalten muss, wird durch ein anderes Mitglied ersetzt, das vom Präsidenten des Gerichts, dem es angehört, bestimmt wird, oder im Conseil d‘Etat der Vorsitzende der Sektion Rechtsstreitigkeiten“.

die Verpflichtung der Richter, eine Interessenerklärung abzugeben, die zur Folge hat, dass die Pflicht zur Unparteilichkeit auf Handlungen des Privatlebens und auf die Situation von Verwandten – Eltern, Ehegatten, Kinder – ausgeweitet wird;

das Ablehnungsverfahren, das den Parteien des Verwaltungsverfahrens offen steht, oder ganz einfach die Ausübung von Rechtsmitteln durch Anfechtung der Ordnungsmäßigkeit des Urteilsgremiums: Unter diesen Umständen wurde die Entscheidung des Conseil d‘Etat vom 15. April 2024 (469719 Département Bouches-du-Rhône) erlassen, die die Unparteilichkeit der Richter, die ein Urteilsgremium bilden, und die Regeln für die Ablehnung gerade anhand der Ausübung früherer Verwaltungsfunktionen definiert und so über die Ordnungmässigkeit der Zusammensetzung des Gremiums, der eine gerichtliche Entscheidung trifft, entscheidet.

Dieser Grundsatz ist einer der ältesten, der innerhalb des Verwaltungsgerichtsbarkeit auf allen Ebenen der Gerichtbarkeit angewandt wird.

Thomas Janicot, rapporteur public in diesem Fall, zitiert einen Beschluss des Conseil d‘Etat vom 11. August 1864 (Rec. S. 767), der bereits denselben Grundsatz festlegt (“ Herr Mares hatte als Mitglied des Gemeinderats der Stadt Montpellier zu den Beratungen dieses Rates vom 20. Dezember 1861 beigetragen, der den Bürgermeister dieser Stadt ermächtigt hatte, die Klage von Herrn Verdier zu verteidigen; daß er daher als Mitglied des Landrats, nicht an dem Beschluß teilnehmen könne, mit dem der „conseil de préfecture“ über die Klage des Herrn Verdier entschieden habe; daß auf diese Weise der Beschluß dieses
„conseil“ vom 3. Dez. 1862 unrechtmäßig erlassen worden sei“).

Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gewährleisten somit die Fairness und Transparenz der Entscheidungen

In dem vom Conseil supérieur de la magistrature veröffentlichten Kompendium der ethischen Pflichten der Richter heißt es, dass “ die Unparteilichkeit des Richters für ihn eine absolute Pflicht darstellt, die darauf abzielt, eines der Gründungsprinzipien der Republik zu verwirklichen: die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz“. Sie ist neben der Unabhängigkeit ein wesentliches Element des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Justiz .“ In weniger feierlichen, aber gleichwertigen Worten bekräftigt die Ethikcharta der Verwaltungsgerichtsbarkeit dieselben Grundsätze.

Schließlich schließt der Grundsatz seiner Unparteilichkeit in der Ethik des Verwaltungsrichters eine Dimension der moralischen Verantwortung ein:

„Ein Richter darf niemals eine Entscheidung treffen, die er nicht vor seinem eigenen Gewissen treffen kann.“, schreibt Albert Camus in „Der Mythos des Sisyphos“.
In einer Zeit, in der die Verwaltungsgerichtsbarkeit zunehmend mit großen gesellschaftlichen und ökologischen Fragen konfrontiert ist – Beendigung der Betreuung, Lebensende, Klimafragen, Säkularismus, Intensivierung von Migrationsbewegungen und ihre vielfältigen sozialen Auswirkungen – findet dieses Prinzip seine volle Resonanz.

Diese Grundsätze, die das Handeln des Verwaltungsrichters leiten, gewährleisten eine ausgewogene Balance zwischen Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Kompetenz und Verantwortung und gewährleisten eine Justiz, die die Grundrechte achtet und die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns garantiert. Die Deontologie ist daher mehr als ein einfacher Satz ethischer Regeln, sie ist daher das Herzstück des Amtes eines jeden Verwaltungsrichters.

Das ist es, was der Ethikcharta zum Ausdruck bringen und bereichern soll und wozu sich das Ethikkollegium, das gerade am vorangegangenen Runden Tisch diskutiert wurde, zur Aufgabe gemacht hat, regelmäßig beizutragen.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts zweifelten viele Richter noch an der Notwendigkeit, die Prinzipien, die die Ausübung ihres Berufs bestimmten, und die ethischen Werte, die sie so viele Jahre lang beseelt hatten, in einem einzigen Instrument zusammenzufassen.

Auf Betreiben des Vizepräsidenten des Conseil d’Etat, Jean-Marc Sauvé, der eine Kommission zur Erörterung der Vermeidung von Interessenkonflikten im öffentlichen Leben geleitet und dem Präsidenten der Republik am 26. Januar 2011 einen sehr wichtigen Bericht mit dem Titel „Für eine neue Déontologie im öffentlichen Leben“ vorgelegt hatte, noch vor der Veröffentlichung der Ethikcharta. Die Verwaltungsgerichtqbarkeit verfügt über ein eigenes Ethikkollegium, das am 20. März 2012 eingerichtet und 2016 institutionalisiert wurde und dessen Stellungnahmen und Empfehlungen seither das Leben der Verwaltungsgerichtsbarkeit prägen.

Die Vielfalt der behandelten Themen zeigt, dass im Laufe der Zeit Fragen auftauchten, die gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegeln, wie z. B. die Entwicklung sozialer Netzwerke und ihre Auswirkungen auf das Gleichgewicht zwischen der Meinungsfreiheit und der Verschwiegenheitspflicht, oder das Wachstum, zum Beispiel, das bei der Ausübung von Nebentätigkeiten wie Mediation oder Umschulung zur Ausübung des Rechtsanwaltsberufs oder bei unternehmerischen Tätigkeiten stattfinden kann.

Die Mehrzahl der Befassungen ab 2022 erfolgte jedoch auf der Grundlage der Bestimmungen der Artikel L.231-5 und L.231- 5-1 des CJA über Unvereinbarkeiten zwischen richterlichen Funktionen und der vorherigen Ausübung von Wahlmandaten oder Verwaltungsaufgaben der Behörde, insbesondere innerhalb der präfektorale Einrichtung oder großer lokaler Behörden, auf die das Kollegium bemüht ist, präzise zu antworten — indem er die Vermehrung prinzipieller Unvereinbarkeiten vermeidet und „Kompatibilitäten mit Vorbehalten“ bevorzugt, deren Inhalt und Konturen er präzisiert.

Der Anstieg der Zahl der Anrufungen auf 13 im Jahr 2023, 11 im Jahr 2024 und 6 im Jahr 2022 ist Teil der starken Verankerung der Ethikkultur innerhalb der Verwaltungsgerichtsbarkeit und scheint auch das Vertrauen sowohl der Richter als auch der Verwaltungsbehörden in die Fähigkeit dieser Institution zum Ausdruck zu bringen, die Überlegungen zu all diesen neuen Fragen voranzutreiben.

Unparteilichkeit IT

Raffaello Sestini

2° table-ronde
Der Unparteilichkeitsgrundsatz, der Verwaltungsrechtsschutz und das Vertrauen der Bürger auf die Justiz

ITALIENISCHER BERICHT – RAFFAELLO SESTINI

– „Die Rechtspflege wird im Namen des Volkes ausgeübt. Die Richter sind nur dem Gesetz unterworfen“ (Artikel 101 der italienischen Verfassung).
Die italienische Verfassung enthält auch einen Gesetzesvorbehalt für das Richter- Disziplinarrecht, um ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten (Art. 108), und sieht vor, dass das Gesetz die Unabhängigkeit des Staatsrats und seiner Mitglieder gegenüber der Regierung gewährleistet (Art. 100). Die allen Richtern und damit auch dem Verwaltungsrichter garantierte Unabhängigkeit zielt darauf ab, die vollständige Umsetzung von Art. 24 zu gewährleisten, wonach „jedermann … zum Schutz der eigenen Rechte und der rechtmäßigen Interessen vor einem Gericht Klage erheben“ darf und Art. S. 113, wonach
„gegen die Maßnahmen der öffentlichen Verwaltung … der Rechtsweg zum Schutz der Rechte und der rechtmäßigen Interessen … immer zulässig“ ist.
In einem solchen verfassungsrechtlichen Rahmen heißt es in Artikel 1 der Verwaltungsprozessordnung: „Die Verwaltungsgerichtsbarkeit gewährleistet einen vollen und effektiven Rechtsschutz gemäß den Grundsätzen der Verfassung und des europäischen Rechts.“ In Artikel 2 heißt es ferner: „Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren finden die Grundsätze der Gleichheit der Parteien, des rechtlichen Gehörs und des fairen Verfahrens, wie es in Artikel 111 erster Absatz der Verfassung vorgesehen ist, Anwendung.“ Diese Grundsätze werden auch von Art. 3 durch die Begründungspflicht für alle Entscheidungen des Verwaltungsrichters gewährleistet.
Der bereits erwähnte Artikel 111 der Verfassung, geändert durch das Verfassungsgesetz Nr. 2 vom 23. November 1999, regelt das „faire Verfahren“ in Übereinstimmung mit den Bestimmungen dieses Artikels. 6 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und sieht in diesem Rahmen vor, dass „jedes Verfahren (…) vor einem unbefangenen und unparteiischen Richter“ abzuwickeln ist.
In der Entscheidung Nr. 353 des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2002 heißt es daher, dass die Unabhängigkeit, Unbefangenheit und Unparteilichkeit des Richters „wesentliche Merkmale jeder Gerichtsbarkeit sind, die ihren Ausdruck finden in der institutionellen Unabhängigkeit des Richters und in seiner Stellung als unparteiischer Dritter, gegenüber jedweder Partei, einschließlich der öffentlichen Verwaltung“.
– Diese Bestimmungen werden durch mehrere Rechtsvorschriften umgesetzt , die u.
den Zugang zur Verwaltungsgerichtsbarkeit im Rahmen eines öffentlichen Auswahlverfahrens vorsehen (obwohl für ein Drittel der Staatsräte und für einige Mitglieder
anderer Gerichte die Ernennung der Exekutive obliegt, im Übrigen nach einem Verfahren, das darauf abzielt, die berufliche Qualifikation des Anwärters zu überprüfen), die Unabsetzbarkeit des Richters, die Regel des „natürlichen Richters“ sowie das Verbot für Richter, mit ihrem Amt unvereinbare Beziehungen zu pflegen und damit unvereinbare Aufgaben zu übernehmen, und in jedem Fall seine Versetzung und seine Pflicht zur Enthaltung, wenn die Unabhängigkeit seiner Stellung und der Anschein von Unabhängigkeit auch aus Gründen, die außerhalb seiner Kontrolle liegen, nicht gewährleistet werden können. Diese Bestimmungen werden ihrerseits neben der Möglichkeit der Parteien, den Richter wegen Befangenheit abzulehnen, durch Disziplinar- und gegebenenfalls strafrechtliche Maßnahmen umgesetzt.
– Zur Vervollständigung des nationalen Rechtsrahmens ist auch darauf hinzuweisen, dass die Grundsätze der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit auch in Bezug auf die Doppelnatur des Staatsrats angewandt werden, der nach Art. 100 der Verfassung „ein Organ zur verwaltungsrechtlichen Beratung und zum rechtlichen Schutz in der Verwaltung“ ist“ (mit einer daraus resultierenden Aufteilung der Kammern in beratende und gerichtliche Kammern). Nach dem letzten Absatz desselben Artikels „gewährleistet das Gesetz die Unabhängigkeit“ des Staatsrats und seiner Mitglieder „gegenüber der Regierung“ gemäß einer vom Verfassungsgeber gewollte Gesamtfunktion, die darauf abzielt, Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns zu garantieren.
Dieselben Grundsätze kommen zudem zur Anwendung, wenn auch die Presse wiederholt polemisch darüber berichtet, in Bezug auf die bestehende Möglichkeit für italienische Verwaltungsrichter, innerhalb gewisser Grenzen bestimmte Arten von Lehraufträgen und Beratungsfunktionen wahrzunehmen, auch bei Behörden und auch ohne Abordnung, vorausgesetzt, diese Beschäftigungen beinhalten keine Ausübung von Verwaltungsämtern, bringen den Richter, der beratende Aufgaben übernimmt, nicht in ein Unterordnungsverhältnis und trüben nicht das Ansehen oder den Anschein der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Richters, unbeschadet der beschriebenen Verfahrensinstrumente der Enthaltung und Ablehnung wegen Befangenheit (da jede Nebentätigkeit öffentlich bekanntgemacht wird).
– Die Beachtung der Disziplinarpflichten des Richters, die in sektoriellen Rechtsnormen verankert und von der Rechtsordnung im Wesentlichen zum Schutz der einzelnen Nutzer des Justizdienstes geahndet werden, erschöpft jedoch nicht das Verhältnis zwischen Ethik und Gerechtigkeit, das sich vielmehr aus den allgemeinen Regeln des bürgerlichen Zusammenlebens der nationalen und internationalen Gemeinschaft ergibt, und damit aus den Grundsätzen der italienischen Verfassung, des EU-Vertrags und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in ständiger Spannung zwischen Sein und Sollen und damit zwischen dem Recht, dem die Richter gemäß Artikel 101 der Verfassung (ausschließlich) unterliegen, den unverletzlichen Rechten der Person, die von der Republik gemäß Artikel 2 der Verfassung „anerkannt und garantiert“ werden, und dem von der Verwaltung verfolgten allgemeinen öffentlichen Interesse, um jedem einen wirksamen gerichtlichen Schutz seiner Rechte und berechtigten Interessen gemäß den Bestimmungen von Artikel 24 der Verfassung zu gewährleisten.
– Das komplexe Verhältnis zwischen den italienischen rechtlichen und berufsethischen Regeln, die sowohl die Unabhängigkeit des Richters von der Regierung als auch die Unparteilichkeit und das Gleichgewicht zwischen den Parteien vor dem Richter
sanktionieren, wird durch ein kürzlich ergangenes Gerichtsverfahren deutlich, in dem es um die fehlerhafte Auswahl eines Richters der ordentlichen Gerichtsbarkeit durch das zuständige Selbstverwaltungsorgan (den Consiglio Superiore della Magistratura) ging, anlässlich der Besetzung der Stelle eines Gerichtspräsidenten.
Die Betroffene hatte gerügt, dass gegen sie ein vom Minister eingeleitetes, aber bereits gerichtlich aufgehobene Disziplinarverfahren rechtswidrig berücksichtigt worden sei, da dies gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive verstoßen hätte. Das Regionale Verwaltungsgericht und dann im Berufungsverfahren der Staatsrat vertraten jedoch die Auffassung, dass die Aufhebung des vom Minister eingeleiteten Verfahrens durch den Kassationsgerichtshof die disziplinarische Relevanz des Vorfalls beseitigt habe, dass jedoch unbeschadet dessen berücksichtigt werden durfte, dass diese Richterin der Presse ein Interview gegeben hatte, das Zweifel an ihrer Unparteilichkeit und Ausgewogenheit geweckt habe eine Tatsache, die bei der Beurteilung der berufsethischen Eignung für das Amt eines Gerichtspräsidenten berücksichtigt werden durfte.
– Die Sensibilität von Fragen wie der untersuchten und das manchmal übersteigerte Medieninteresse an Richtern zeigen sich auch, insbesondere im Zusammenhang mit der vom Gerichtshof, aber auch von unserem Verfassungsgericht (bis zum jüngsten Urteil Nr. 110 aus dem Jahr 2023) dargelegten Notwendigkeit, den Bürgern und Unternehmen eine angemessene Rechtssicherheit zu gewährleisten , vor dem Hintergrund einer Situation, in der es auch heute noch eine enorme Zahl von Bestimmungen gibt, die sich nach und nach in einer nicht immer koordinierten Weise überlagert haben, die das Verständnis der tatsächlich auf den konkreten Fall anwendbaren Regel behindern, so dass paradoxerweise die Rechtssicherheit manchmal gerade durch die Entscheidung des Richters wiederhergestellt wird.
– Die genannten kritischen Fragen werden im Fall des Verwaltungsrichters besonders deutlich, und zwar sowohl aufgrund des Fehlens eines Gesetzbuches, das wie das Zivil- und das Strafrecht das Verwaltungsrecht zumindest teilweise regelt, als auch aufgrund des besonderen Charakters des Verwaltungsprozesses, der nach der Lehre eines seiner führenden Kenners, Mario Nigro, durch die dynamische Beziehung zur Verwaltung gekennzeichnet ist. da sie eine Klammer öffnet, die einen konkreten Fall definiert, aber auch die Regel für künftiges Verwaltungshandeln festlegt.
– Wenn die Verwaltungstätigkeit den Aufgaben des Schutzes der öffentlichen Rechte und Interessen unangemessen zuwiderläuft oder diese um den Preis einer unangemessenen Beeinträchtigung der Standpunkte und Erwartungen der Betroffenen ausübt, kann eine solche Abweichung vom Verwaltungsrichter beurteilt werden, wenn eine solche Entscheidung Ausdruck eines technischen oder verwaltungsrechtlichen Ermessens ist, während dann, wenn die Tätigkeit nach pflichtgemäßem Ermessen zu erfolgen hat, der Richter die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes dem Verfassungsgericht vorlegen oder ein Vorabentscheidungsverfahren der Europäischen Organe einleiten kann, um das Spannungsverhältnis zwischen Ethik und Recht durch einen proaktiven Ansatz zu lösen, bei dem die Gründe der Verfahrensparteien und des gesamten Rechtssystems verteidigt werden.
– Im Übrigen stellt die Einführung eines „ethischen“ Spannungsfeldes bei der Ausübung des richterlichen Amtes weder eine Verletzung der Unparteilichkeit des Richters noch einen Eingriff in die Räume von Politik und Verwaltung noch eine besondere Gefahr für den
Grundsatz der Gewaltenteilung dar, da in einem säkularen Rechtsstaat die Einstellung, „das Richtige zu tun“, niemals auf den Überzeugungen und Befindlichkeiten des Richters und seines Lebensumfelds beruhen kann. Im Gegenteil, sie wird als Parameter für die kritische Bewertung und mögliche Verbesserung ihrer beruflichen Tätigkeit die Erfordernisse des Schutzes der individuellen Rechte und des allgemeinen öffentlichen Interesses heranziehen müssen, indem sie einen objektiven und daher überprüfbaren Bezug gemäß unserem Recht haben, beginnend mit der Verfassung und ihrem Verweis auf die internationalen und europarechtlichen Verpflichtungen unseres Landes. Jeder Richter hat geschworen, der Republik treu zu sein und „ihre Verfassung und Gesetze zu beachten“.
– Dem einleitenden Bericht des Präsidenten des Staatsrats vor dem Ersten Nationalen Kongress der Verwaltungsrichter im Jahr 2019 zufolge wurde in Italien die Verwaltungsgerichtsbarkeit 1889 geschaffen, um eine Lücke zu schließen, die sich aus dem früheren System der einheitlichen Gerichtsbarkeit von 1865 ergab, das nur den Schutz der „bürgerlichen oder politischen Rechte“ durch den ordentlichen Richter vorsah. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit entstand daher aus dem Bedürfnis nach einem besseren Schutz der subjektiven Situation des Bürgers, die zuvor nicht anerkannt wurde, und nicht als Kontrollinstanz der Verwaltung.
Mit der neuen Verfassungsordnung wird der Verwaltungsrichter zum „Richter der öffentlichen Verwaltung, wenn er in Ausübung seiner Macht handelt“ (Urteil des Verfassungsgerichts Nr. 204 von 2004) oder zum natürlichen Richter der öffentlichen Gewalt, der sich an die Schnittstelle zwischen dem Individuum und der Staatsmacht stellt, die für die Rechtsstaatlichkeit und erst recht für den Wohlfahrtsstaat von entscheidender Bedeutung ist, in dem die in der Verfassung erklärten Rechte konkret werden dank der Vermittlung der öffentlichen Gewalt, deren Vorrangstellung nur dann gerechtfertigt ist, wenn und soweit sie dem Streben nach dem Gemeinwohl dienlich ist.
Heute, in einem Kontext, in dem die nationalen Institutionen in der Krise stecken und die Gesetze oft verworren und zunehmend unsystematisch sind, und angesichts einer erschütternden sozialen Realität, in der die rasche Entwicklung der Technologie zur Beherrschung des Rechts durch die Technik führen kann, muss der Verwaltungsrichter die Wirksamkeit des Rechtsschutzes gewährleisten, „indem er gleiche und völlig austarierte Bedingungen für die Parteien herstellt in Verwaltungsverfahren und beim wirtschaftlichen Handeln, mit dem Leitbild „nur dem Gesetz unterworfen“.
– Die Formulierung „nur dem Gesetz unterworfen“ in Artikel 101, fährt der Präsident des Staatsrats (jetzt Mitglied des Verfassungsgerichtshofs) fort, sei die Grundlage für die Garantie der Unabhängigkeit und Autonomie der Justiz, indem sie sie vor jeder Form von Einmischung schütze, aber sie seien auch an den Richter gerichtet und „erlegen ihm eine spezifische berufsethische Regel auf: Verhaltensweisen zu vermeiden, die seine Gewissensfreiheit beeinträchtigen könnten. Vermeidung jeder Form von Konditionierung oder scheinbarer Konditionierung, die das Bild der Unparteilichkeit oder einfach der Gewissenhaftigkeit des Richters verdunkeln könnte. In dieser Dimension kann auch privates Verhalten für berufsethische Belange relevant sein, wenn und soweit es in Privatinteresse oder Vorurteile münden kann, die die Gewissensfreiheit und die intellektuelle Redlichkeit des Entscheidungsträgers beeinträchtigen können.“
– In diesem Zusammenhang kommt der genannte Bericht zu dem Schluss, dass die öffentliche Ethik für den Richter eine Kultur der Rechtsprechung ist und die
Unparteilichkeit des Richters einen Prozess der Neutralisierung seiner eigenen subjektiven Vorstellungen und Erfahrungen erzwingt, um, leidenschaftslos und leidenschaftlich zugleich, nach der Grundlage des Gemeinwohls in einer Gesellschaft zu suchen, die durch einen Wertepluralismus gekennzeichnet ist und es der italienischen Verwaltungsgerichtsbarkeit ermöglicht, zu der Aufgabe beizutragen, die den Verwaltungsgerichtshöfen der EU-Länder haben können und müssen, beim Aufbau einer gemeinsamen europäischen Ordnung, fähig, den institutionellen und politischen Krisen standzuhalten dank der Bekräftigung der allgemeinen Grundsätze und Grundrechte, die in der Lage sind, dem Konzept der Unionsbürgerschaft Substanz zu verleihen und die „Glaubwürdigkeit“ des europäischen Projekts und der Verwaltungsrichter der dazugehörigen Länder zu gewährleisten.
Im Ergebnis ist festzustellen, dass die Unparteilichkeit ein unabdingbares Erfordernis für die Tätigkeit des Richters ist, aber damit er vor den Bürgern glaubwürdig ist, darf sie niemals in Gleichgültigkeit gegenüber den Gründen dieser Bürger umschlagen.

Mäßigungsgebot

Dr. Björn Krumrey, Richter am Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen

Vortrag auf der Tagung der Association des Juges Administratifs Français, Italiens et Allemands (AJAFIA), La déontologie du juge administratif: regards croisés,
am 28. März 2025 in Marseille

Mesdames et messieurs, signore e signori, sehr geehrte Damen und Herren,

Inhalt und Tragweite von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sind Richtern geläufig. Für das Mäßigungsgebot gilt dies nicht unbedingt. Was bedeutet es, sich als Richter
„zurückhalten“ zu müssen? Gilt dies nur inner- oder auch außerdienstlich? Fragen nach der Reichweite des Mäßigungsgebots sind nicht nur für Berufsanfänger relevant, sondern drängen sich gerade Verwaltungsrichtern bei Sachverhalten mit politischen Auswirkungen auf.
Für Richter entsteht durch die Ernennung ein Dienst- und Treueverhältnis gegenüber dem Dienstherrn mit Rechten und Rechtspflichten. Verfassungsrechtlich gehören dazu die Pflicht zur Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Justizgewährleistung. Zu den einfach-rechtlichen Amtspflichten1 zählt das Mäßigungsgebot.2

Dieses ist in Deutschland gesetzlich geregelt: Nach § 39 Deutsches Richtergesetz (DRiG) hat der Richter sich innerhalb und außerhalb seines Amtes, auch bei politischer Betätigung, so zu verhalten, dass das Vertrauen in seine Unabhängigkeit nicht gefährdet wird.

Nach einem einleitenden Überblick (I.) möchte ich Anwendungsbereich und Umfang des Mäßigungsgebots (II.) sowie Fragen der politischen Betätigung als Richter behandeln (III.), um abschließend auf das Disziplinarrecht einzugehen (IV.).

1 Im Fünften Abschnitt des ersten Teils des DRiG heißen diese „besondere Pflichten des Richters“.
2 Zu weiteren richterdienstlichen (§§ 40 ff. DRiG) und insbesondere aus dem Beamtenrecht abgeleiteten Dienstpflichten vgl. Schneider, Richterliche Ethik im Spannungsfeld zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Gesetzesbindung, Dissertation, 2017, S. 379 ff.
(Historischer) Überblick

Erfahrungen mit der Richterschaft in der Weimarer Republik und insbesondere der NS- Zeit haben in der Bundesrepublik nach 1949 zu Diskussionen über das Richterdienstrecht und die Abgrenzung von Neutralität und politischer Betätigung von Richtern geführt. Vor diesem Hintergrund war bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes die Personalisierung des Richteramts und die gesteigerte richterliche Verantwortung von Bedeutung. Eine „unpolitische“ Justiz sollte es nicht gegeben, vielmehr einen „staatspolitischen“ (nicht parteipolitischen) Richter mit leidenschaftlichem Bekenntnis zur Demokratie als unabhängiges Organ im demokratischen Aufbau (wehrhafte Demokratie).3

Mit dem DRiG (1961) bezweckte der Gesetzgeber eine Kodifizierung des für die Berufsrichter geltenden Rechts.4

Folge der historischen Erfahrungen und der Rechtstradition ist die Verrechtlichung der Richterpflichten im Richterdienstrecht.5 Diese sind u. a. im DRiG engmaschig gesetzlich geregelt6; bei deren Verletzung drohen – anders als bei ethischen Pflichten – disziplinarische Folgen. Demgegenüber stellt der Richtereid das öffentliche Bekenntnis des Richters zum Gemeinwesen und der Werteordnung dar und fasst den ethischen Gehalt der Richterpflichten zusammen.7

Hierdurch ist der Raum für eine nichtrechtliche Berufsmoral oder Richterethik im Gegensatz zu anderen (europäischen) Ländern8 eingeschränkt. Ein Kodex richterlicher Moral ist in Deutschland nicht vorhanden. Vermehrt gibt es aber Forderungen, das richterliche Verhalten zusätzlich ethisch zu fundieren/begrenzen.9

3 Dies kommt etwa in § 9 Nr. 2 DRiG zum Ausdruck, wonach in das Richterverhältnis nur berufen werden darf, wer u. a. die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt. Vgl. Schneider, Richterliche Ethik, S. 252 ff.
4 Vgl. BT-Drs. 3/2785, S. 5.
5 Vgl. Schneider, Richterliche Ethik, S. 258.
6 Zudem durch das Grundgesetz (Art. 20 Abs. 3 GG), die Prozessordnungen und Art. 6 EMRK.
7 In § 38 Abs. 1 DRiG heißt es: „Ich schwöre, das Richteramt getreu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und getreu dem Gesetz auszuüben, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen, so wahr mir Gott helfe“; vgl. BT.-Drs. 3/516, S. 44 f.
8 Zu Italien und Frankreich, siehe Schneider, Richterliche Ethik, S. 164 ff.
9 Vgl. Titz, DRiZ 2009, 32 ff.; dieselbe, DRiZ 2009, 34 ff.; im Einzelnen Schneider, Richterliche Ethik,
S. 260 ff., 546 ff.
Der Deutsche Richterbund etwa befasst sich übergreifend mit berufsethischen Fragen und hat 2013 (bewusst nur) Thesen zu richterlichen Werten zur Diskussion verabschiedet.10 Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat für seine Richter Verhaltensleitlinien mit Regeln zur richterlichen Berufsmoral als Selbstverpflichtung aufgestellt.11 In der Verwaltungsgerichtsbarkeit gibt es Arbeitsgruppen zu Fragen des Amtsverständnisses von Verwaltungsrichtern.12

Der Anwendungsbereich von § 39 DRiG und dessen Umfang

Trotz des weiten Wortlauts lassen sich Einzelheiten des Mäßigungsgebots aus der Gesetzesauslegung und der Rechtsprechung unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Stellung des Richters ermitteln.

Aufgrund der Neutralität wird von einem Richter ein höheres Maß an innerer Unabhängigkeit und Differenziertheit erwartet als bei einem Beamten13.14 Bereits die Gefährdung des Vertrauens reicht für eine Verletzung aus. Richter haben sich im umfassenden Sinne unabhängig zu halten und dies durch ihr Verhalten zu bezeugen.15 Schon der böse Schein der Parteilichkeit (durch äußeres Verhalten) ist zu vermeiden.16 Die richterliche Unabhängigkeit wird im Allgemeinen durch das Mäßigungsgebot geschützt, im konkreten Fall durch das Befangenheitsrecht.

Das Mäßigungsgebot innerhalb des Richteramtes

10 https://www.drb.de/positionen/themen-des-richterbundes/ethik (Abruf am 14. März 2025); https://www.drb.de/ fileadmin/DRB/pdf/Ethik/1901_DRB-Broschuere_Richterethik_in_Deutschland.pdf (Abruf am 14. März 2025).
11 https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/DasBundesverfassungsgericht/RichterinnenRichter/ Verhaltensleitlinien/verhaltensleitlinien_node.html (Abruf am Abruf am 14. März 2025).
12 Eine Arbeitsgruppe der Verwaltungsgerichtsbarkeit des Landes NRW hat „Anforderungen an Verwaltungsrichter in einer modernen Gerichtsbarkeit“ erarbeitet. Die Überlegungen aus dem Jahr 2009 verhalten sich zum Amtsverständnis, zur fachlichen Qualifikation und weiteren Kompetenzen des Verwaltungsrichters, zur Gesetzesbindung und zur unparteilichen Haltung und sollen als Anregung für die weitere Diskussion verstanden werden, vgl. https://www.ovg.nrw.de/aufgaben/qualitaetsdiskussion/08_grundlagenpapier.pdf.
13 Für diese gilt das beamtenrechtliche Neutralitäts- und Mäßigungsgebot (§ 60 Abs. 2 BBG bzw. § 33 BeamtStG): Beamtinnen und Beamte haben bei politischer Betätigung diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu wahren, die sich aus ihrer Stellung gegenüber der Allgemeinheit und aus der Rücksicht auf die Pflichten ihres Amtes ergeben, vgl. hierzu Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Mäßigungsgebot für Bedienstete im öffentlichen Dienst, 28.03.2019, WD 6 – 3000 – 045/19.
14 Vgl. BT-Drs. 3/516, S. 45.
15 Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 1987 – 2 C 72.86 –, juris, Rn. 12.
16 Vgl. BT-Drs. 3/516, S. 45.
Im funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsprechungstätigkeit fordert das Mäßigungsverbot eine besondere Zurückhaltung und strenge Sachlichkeit. Art. 5 GG gilt bei amtlichen Äußerungen nicht. Der Kernbereich der Rechtsfindung untersteht der richterlichen Unabhängigkeit und ist dienstaufsichtsrechtlichen Maßnahmen entzogen, nicht aber die Art der Ausführung der Amtsgeschäfte.17 Die Begründung von Entscheidungen ist allein mit rechtlichen Erwägungen zulässig. Meinungsäußerungen ohne Bezug zum Sachverhalt oder dem anzuwendenden Recht sowie persönliche, unsachliche Angriffe auf die Beteiligten stellen einen Verstoß dar.18 Besonders ist das Mäßigungsgebot bei politisch brisanten Verfahren zu beachten (Versammlungs-, Asylrecht). Verstöße im innerdienstlichen Bereich führen prozessrechtlich oft zur Befangenheitsablehnung; disziplinarrechtliche Folgen sind selten.

Das Mäßigungsgebot außerhalb des Richteramtes
Das Mäßigungsgebot gilt ebenso außerhalb des Kernbereichs der richterlichen Tätigkeit. Je weiter der Lebensbereich von der Amtstätigkeit entfernt ist, desto geringer sind die Anforderungen hieran. Denn auch Richter nehmen staatsbürgerliche Rechte als Privatperson wahr.19

Äußerungen in der Öffentlichkeit
Die freie Meinungsäußerung kann der Richter als Privatperson selbstverständlich in Anspruch nehmen. Hierbei gilt allerdings die Pflicht zur verbalen Zurückhaltung und differenziertem Auftreten. Eine verletzende Äußerung bei Bekanntsein der Amtsfunktion des Richters kann das Vertrauen in dessen Unparteilichkeit gefährden.

Nach dem BVerfG genießen Richter wie jeder Staatsbürger den Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit. Sie können sich politisch betätigen und hierzu ihre Auffassung in Wort und Schrift äußern und vertreten. Die Richter haben ihr Amt politisch neutral als Diener des Rechts wahrzunehmen. Meinungsäußerungen von Richtern in der Öffentlichkeit sind verfassungsrechtlich nur dann geschützt, wenn sie

17 Vgl. Schmidt-Räntsch, Deutsches Richtergesetz, Kommentar, 6. Auflage 2009, § 39 Rn. 9.
18 Vgl. Brandb. Dienstgericht für Richter, Urteil vom 10. November 2023 – DG 1/21 –, juris.
19 Wie Art. 4, 5, 8 und 9 GG; vgl. Schmidt-Räntsch, DRiG, § 39 Rn. 8.
mit der Pflicht zur Zurückhaltung vereinbar sind. Die Vereinbarkeit einer Äußerung des Richters mit seinen Dienstpflichten ist jeweils konkret zu bewerten.20

Im Streitfall war ein Verstoß des Richters gegen das Mäßigungsgebot gegeben, der einen Zeitungsaufruf unter Hinweis auf sein Richteramt unterzeichnet hatte, mit der einseitig Einfluss auf die Entscheidung eines anderen Gerichts genommen werden sollte (Einstellung eines Lehrers als DKP-Mitglied in den Schuldienst).21

Zu den Hintergründen des Mäßigungsgebots formuliert das BVerfG: Das Grundgesetz sieht den Richter als Amtswalter, der nur der Sache verpflichtet, unter gerechter Abwägung aller Rechte und Belange der Betroffenen und auch der Allgemeinheit verbindlich zu entscheiden hat, eine Aufgabe, die in seiner Person Unabhängigkeit, Neutralität und Distanz voraussetzt. Ein bestimmtes Maß an Zurückhaltung ist erforderlich, wo das persönliche Bekenntnis mit dem Ansehen des Amtes in Konflikt geraten könnte. Die Überzeugungskraft richterlicher Entscheidungen beruht nicht nur auf der juristischen Qualität ihrer Gründe; sie stützt sich in hohem Maße auf das Vertrauen, das den Richtern von der Bevölkerung entgegengebracht wird. 22

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hebt hervor, dass Staat und Gesellschaft an unkritischen Richtern kein Interesse haben können. Der Richter kann sich, soweit kein unmittelbarer Bezug zu konkreten, von ihm zu entscheidenden Rechtsstreitigkeiten besteht, mit der gebotenen Sachlichkeit und Distanz (in Zeitschriften, Referaten, bei Kolloquien) auch zu rechtspolitischen Fragen äußern. Auch die Erwähnung seines Richteramts ist in der Regel erlaubt23, ebenso wie ein Richter, dessen Rechtsstellung in der Öffentlichkeit bekannt ist, nicht von Meinungsäußerungen ausgeschlossen ist.24

Die Grenzen zulässiger Äußerungen hängen vom Einzelfall ab:

20 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. August 1983 – 2 BvR 1334/82 –, juris, Rn.6.
21 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. August 1983 – 2 BvR 1334/82 –, juris.
22 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Juni 1988 – 2 BvR 111/88 –, juris, Rn. 5: Disziplinarmaßnahme gegen einen Richter wegen einer Zeitungsanzeige mit Amtsbezeichnung und Bezugnahme auf das richterliche Selbstverständnis gegen Raketenstationierung verstößt nicht gegen Art. 5 GG.
23 Vgl. § 46 DRiG i.V.m. § 86 Abs. 2 Satz 2 BBG und entsprechende Vorschriften der Länder.
24 Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 1987 – 2 C 72.86 –, juris, Rn. 11 ff., 14, nachgehend BVerfG, Beschluss vom 6. Juni 1988 – 2 BvR 111/88 –, juris.
Polemische/diffamierende Meinungen können das Mäßigungsgebot verletzen. Beispiele aufhetzender Meinungsäußerungen zeigen sich aktuell zu staatlichen Maßnahmen während der Corona-Pandemie.25 Entscheidend ist, wie exponiert ein Richter auf Grund seines Ranges und Auftretens im Einzelfall ist. Relevant sein können Größe des Gerichts, Klein- /Großstadt, örtliche Anschauungen.26
Für unzulässige Äußerungen sprechen Form- und Argumentationsmängel und ein Mangel an Rechtstreue (Rechtsverstöße/Aktionen zivilen Ungehorsams).
Eine klare Trennung zwischen Amt und Ansicht ist erforderlich. Bei rein justizpolitischen Themen kann die Berufung auf das Richteramt zulässig sein.
Auch ein (Verwaltungs-)Richter darf als Privatperson gegen Satzungen vor dem Verwaltungsgericht klagen und dies – nach Auffassung des Richter- dienstgerichts – sogar öffentlich in der Presse (mit Foto) kommunizieren und sachlich Stellung nehmen.27
Bei gesellschaftlich umstrittenen Fragen können öffentliche Äußerungen mit Rechtsbezug das Vertrauen in die Neutralität gefährden. Maßgeblich ist, wie juristisch nicht Geschulte eine Äußerung verstehen (Beispiel: pointierte, in Art und Weise/Wortwahl teilweise fragwürdige Zeitungskolumnen eines ehem. Bundesrichters zu aktuellen Rechtsfragen) 28.
Die Mitgliedschaft in Vereinen/Gewerkschaften ist grds. zulässig, kann aber problematische Auswirkungen haben. So stellte sich die Frage der Besorgnis der Befangenheit bei einem Senatsvorsitzenden eines OVG, der Mitglied in einer Naturschutzvereinigung war, die ein Normenkontrollverfahren vor dem OVG (sein Senat war zuständig) angestrengt hatte. Die bloße „zahlende Mitgliedschaft“ ohne jede aktive inhaltliche Arbeit an der Vereinsarbeit genügte hierfür nicht.29 Auch hier kommt es auf den Einzelfall an: Werden extreme Positionen vertreten, handelt es sich um einseitige Interessenwahrnehmung?

Im täglichen Leben hat der Richter sich also Zurückhaltung aufzuerlegen. Er soll zwar für seine Ansichten kämpfen, darf aber nicht vergessen, dass er Richter ist

25 Zu einem Lehrer, vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. Februar 2024 – 6 B 1209/23 –, juris.
26 Vgl. Schmidt-Räntsch, DRiG, § 39 Rn. 8, 10 ff., 15, 28 f.
27 Vgl. Brandb. Dienstgericht für Richter, Urteil vom 20. November 2020 – DG 2/12 –, juris.
28 So Mosbacher, LTO vom 25. Juli 2016, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/richter-moderne- medien-wuerde-amt-zurueckhaltung-und-maessigungsgebot (Abruf am Abruf am 14. März 2025). 29 Vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 17. Dezember 2020 – 1 KN 155/20 –, juris.
und am nächsten Tag einem „Konkurrenten“ im politischen Meinungskampf im Gerichtssaal begegnen könnte.

Sonderfall soziale Netzwerke und Messenger (Facebook/X/WhatsApp)
Gerade soziale Medien mit frei zugänglichen Informationen erfordern hinsichtlich des Mäßigungsgebots eine besondere Sensibilität. Ein weitreichendes Beispiel hatte der Bundesgerichtshof zu einem Vorsitzenden Richter einer Strafkammer zu entscheiden. Dieser hatte auf seinem Facebook-Account neben seinem Beruf ein Lichtbild gepostet, auf dem er mit einem Bierglas auf einer Terrasse saß und ein T-Shirt mit der Aufschrift trug: „Wir geben Ihrer Zukunft ein Zuhause: JVA“. Zudem fand sich auf seiner Seite ein Eintrag: „Wenn du raus kommst, bin ich in Rente‘-Blick“. Der Angeklagte empfand dies nicht als Scherz, sondern stellte einen Befangenheitsantrag, den der BGH bestätigte: Die Facebook-Seite sei öffentlich zugänglich gewesen, habe einen Hinweis auf die berufliche Stellung enthalten und der Inhalt lasse „eindeutig eine innere Haltung“ erkennen, die der Neutralität eines Richters entgegenstehe. Ein Zusammenhang mit dem konkreten Strafverfahren sei nicht erforderlich, weil durch die Berufsangabe nicht mehr nur die persönlichen Verhältnisse des Richters betroffen seien.30

Was folgt hieraus für die Nutzung sozialer Medien? Mit der öffentlichen (freiwilligen) Nennung des Amtes greift die Mäßigungspflicht. Folgende Fragen stellen sich: Können nur aktuelle Posts relevant sein oder auch gelöschte (das Internet vergisst nie, Auffindbarkeit von Screenshots)? Ist eine glaubhafte Distanzierung im Nachhinein möglich? In einem Disziplinarverfahren hat es nicht ausgereicht, dass eine Richterin den Hinweis auf ihren Beruf in ihren Facebook-Einstellungen entfernt hatte, weil sie in der Öffentlichkeit durch vorherige Posts bereits bekannt geworden war.31 Gegenständlich war auch das Hochladen von fremden Beiträgen, das zu einer Zurechnung führen kann (Video zur Migrationspolitik der ehem. Bundeskanzlerin mit unsachlicher Polemik). 32

30 Vgl. BGH, Beschluss vom 12. Januar 2016 – 3 StR 482/15 –, juris; hierzu Kudlich, JA 2016, 395.
31 Vgl. Sächs. Dienstgericht für Richter, Urteil vom 30. März 2023 – 66 DG 1/21 –, juris.
32 Vgl. Sächs. Dienstgericht für Richter, Urteil vom 30. März 2023 – 66 DG 1/21 –, juris.
Es gibt Vorschläge zum Verhalten von Richtern in sozialen Netzwerken: Einstellungen regulieren (Auffindbarkeit durch Suchmaschinen mit Opt-out-Button begegnen), Adressatenkreis eingrenzen (bei Bildern), keine beruflichen Informationen nennen („tätig in der Justiz“ zulässig?). Problematisch sein können Kommentare auf Gruppenseiten, der Beitritt zu Gruppen, das „Liken“ fremder Inhalte sowie „falsche“ Freunde und deren Posts.33

Politische Betätigung von Richtern
Richter sollen Staatsdiener und Staatsbürger zugleich sein und sich der (rechts-
)politischen Bedeutung ihrer Entscheidungen und deren Wirkungen bewusst sein.34 Sie sollen am politischen Leben teilnehmen und für ihre Position eintreten können.35

Laut BVerwG darf der Richter sich auch parteipolitisch betätigen, Ämter übernehmen, in der Öffentlichkeit als Funktionär auftreten und sich am Wahlkampf beteiligen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob er mit der Auffassung der Regierung übereinstimmt oder ihr widerspricht. Ein parteipolitisches Engagement gefährdet grundsätzlich nicht das Vertrauen in seine Unabhängigkeit. Die Pflicht zur Mäßigung gebietet jedoch in besonderer Weise eine klare Trennung zwischen Richteramt und seiner Teilnahme am politischen Meinungskampf. Er darf bei seinen privaten Äußerungen nicht den Anschein einer amtlichen Stellungnahme erwecken.36

Mit der Repräsentation der Dritten Gewalt geht eine besondere Verantwortung einher. Daher kommt der richterlichen Unabhängigkeit und dem Amtsethos für das „private“ Auftreten grundlegende Bedeutung zu: Jeder Richter muss die Grenzen in seiner eigenen Verantwortung im Einzelfall selbst definieren, leben sowie je nach Stellung und Situation mit Blick auf den sozialen Kontext anpassen. Gerade für

33 Vgl. im Einzelnen Herberger, jM 2017, 79.
34 Vgl. Schmidt-Räntsch, DRiG, § 39 Rn. 17 ff.
35 Dies zeigt ausdrücklich die Regelung zur Mitgliedschaft eines Richters im Bundestag oder einer anderen gesetzgebenden Körperschaft. Nach § 36 DRiG ist einem Richter bei Aufstellung als Bewerber für die Wahl zum Bundestag in den letzten zwei Monaten vor der Wahl Urlaub unter Wegfall seiner Bezüge zu gewähren. Im Falle seiner Wahl in den Bundestag, oder etwas als Mitglied der Bundes- oder einer Landesregierung enden das Recht und die Pflicht zur Wahrnehmung des Richteramts. Die Unvereinbarkeit gleichzeitiger Aufgabenwahrnehmung folgt aus § 4 Abs. 1 DRiG.
36 Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 1987 – 2 C 72.86 –, juris, Rn. 15, nachgehend BVerfG, Beschluss vom 6. Juni 1988 – 2 BvR 111/88 –, juris.
Verwaltungsrichter ist im politischen Raum aufgrund der mit politischen Einflüssen geprägten Rechtsmaterien besondere Sensibilität und Vorausschau geboten.37

Die eigene Meinung darf durchaus pointiert vorgetragen werden. So hatte das BVerwG über die Einstellung eines Verwaltungsrichters zu entscheiden, der einen kritischen Vortrag zu damaligen Änderungen des Asylgesetzes gehalten hatte. Da dem Mäßigungsgebot vor Einstellung keine „Vorwirkung“ zukommt und der Bewerber sich nicht zu Einzelfragen des Asylrechts festgelegt, sondern sachliche Kritik geäußert hatte, war dies nicht hinderlich.38 Vorsicht gilt bei „exponierten“ Meinungen, die sich von der Sache entfernen. Zurückhaltung ist zudem bei „exponierten“ Richtern (Präsidenten) geboten, bei denen noch mehr als sonst eine Zurückhaltung in der Art der (sachlichen) Darstellung verlangt werden muss. Das Mäßigungsgebot fordert bei
„exponiertem“ Verhalten von Richtern (Aufsätze, Podiumsdiskussionen) Sachlichkeit. Nicht zulässig wäre das Herausstellen des Richteramtes bei Wahlkampfveranstaltungen/Demonstrationen. Der Richter muss stets den Eindruck vermitteln, sich an Recht und Gesetz zu halten. Dies erfordert eine deutliche Distanzierung bei strafbaren Handlungen und rechtlich zweifelhaften Maßnahmen.

Die Mitgliedschaft in Parteien/Kommunalvertretungen ist – solange die Dienstleistungspflicht gewahrt ist – zulässig.39 Unvereinbar kann allerdings die Aufgabenwahrnehmung rechtsprechender und vollziehender Gewalt sein, wenn ein Richter als Kommunalpolitiker bei gleichzeitiger Tätigkeit in den Aufsichtsrat eines Unternehmens (Stadtwerke) entsandt wird.40

Aktuell ist der Fall eines sog. „AfD-Richters“, der Bundestagsabgeordneter der genannten Partei war und anschließend als Richter in die Justiz zurückkehrte. Der Dienstherr hat ihn sodann – nach Auffassung des Richterdienstgerichts zu Recht – in den Ruhestand versetzt, weil eine schwere Beeinträchtigung der Rechtspflege durch seine öffentlichen außerparlamentarischen Äußerungen und Verhaltensweisen sowie

37 Vgl. Burghardt, DRiZ 2010, 351 ff., 354 f.
38 Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. September 1996 – 2 C 39.95 –, juris.
39 Kritisch Thomsen, NVwZ 2025, 382, und Schmidt, ZRP 2008, 242, 244 zu einer „Vermengung von Gewalten“ gerade in kleinen Gerichtsbezirken.
40 Vgl. OVG NRW, Urteil vom 8. Dezember 2006 – 1 A 3842/05 –, juris; BVerwG, Beschluss vom
29. März 2000 – 2 B 47.99 –, juris, zur Unvereinbarkeit von Richteramt und Mitgliedschaft im Verwaltungsausschuss einer Gemeindevertretung.
der herausgehobenen Stellung vorliege. Er werde in der Öffentlichkeit als Rechtsextremist wahrgenommen und habe seine Glaubwürdigkeit als Organ der Rechtspflege und das Vertrauen in eine unvoreingenommene Ausübung seines Amtes verloren.41

Überblick über das richterliche Disziplinarrecht

Das Disziplinarrecht betrifft die Verletzung von Dienstpflichten, die eine Disziplinarmaßnahme nach sich zieht. Diese soll zur künftig ordnungsgemäßen Erfüllung der Dienstpflichten anhalten oder führt zur Entfernung aus dem Dienst, wenn der Richter untragbar geworden ist. Das Verfahrens- sowie materielle Disziplinarrecht ist in den Richtergesetzen geregelt,42 ergänzend in den Beamtengesetzen.43

Zentraler Begriff ist das Dienstvergehen, also die schuldhafte Verletzung richterlicher Dienstpflichten.44 Innerdienstliches Fehlverhalten45 unterliegt in den Grenzen der richterlichen Unabhängigkeit der disziplinarischen Würdigung (Beispiel: Fernbleiben vom Dienst).

Außerdienstliches Fehlverhalten stellt nur beim Vorliegen qualifizierender Voraussetzungen ein Dienstvergehen dar.46 Das Verhalten muss im Einzelfall in besonderem Maße geeignet sein, das Vertrauen in einer für sein Amt oder das Ansehen des Richtertums bedeutsamen Weise zu beeinträchtigen. Ob und in welchem Umfang eine solche Beeinträchtigung vorliegt, hängt von Art und Intensität der Verfehlung ab.47 Dies ist der Fall bei Zweifeln, ob der Richter seine innerdienstlichen Pflichten beachten wird. Zum anderen verstößt außerdienstliches Verhalten gegen

41 Sächs. Dienstgericht für Richter, Urteil vom 1. Dezember 2022 – 66 DG 2/22 –, juris, bestätigt durch BGH, Urteil vom 5. Oktober 2023 – RiZ (R) 1/23 –, juris; hierzu Gärditz, DVBl. 2023, 367. Allerdings keine Aberkennung des Ruhegehalts, vgl. LG Leipzig, Urteil vom 28. November 2024 – 66 DG 2/23 –, juris.
42 Für Bundesrichter in den §§ 62 ff. DRiG bzw. im LRiG.
43 BDG bzw. LDG gelten, sofern der dienstrechtliche Status des Richters nicht entgegensteht.
44 Vgl. § 77 BBG.
45 Die Abgrenzung zum außerdienstlichen Fehlverhalten richtet sich nach dem funktionellen Zusammenhang der Dienstbezogenheit.
46 Vgl. etwa § 2 LRiStaG NRW i.V.m. § 47 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG.
47 Vgl. BVerwG, Urteile vom 18. Juni 2015 – 2 C 9.14 –, juris Rn. 11 ff., und vom 19. August 2010 – 2 C 13.10 –, juris Rn. 11 ff.; Brandb. Dienstgericht für Richter, Urteil vom 10. November 2023 – DG 1/21 –, juris Rn. 64 ff.
berufliche Erfordernisse, wenn dadurch das Vertrauen der Bevölkerung in das Richtertum beeinträchtigt werden kann, etwa bei der Begehung von Straftaten.48

Als Disziplinarmaßnahmen kommen – nach pflichtgemäßem Ermessen des Dienstherrn – in Betracht: Verweis, Geldbuße, Kürzung der Dienstbezüge sowie Entfernung aus dem Dienst.49 Während der Verweis durch Disziplinarverfügung verhängt werden kann, können andere Disziplinarmaßnahmen nur auf Disziplinarklage durch die Richterdienstgerichte verhängt werden. Art und Schwere des Dienstvergehens, der Grad der Schuld und der Schuldfähigkeit des Richters sowie dessen Persönlichkeitsbild und der Umfang der Vertrauensbeeinträchtigung sind zu berücksichtigen.50

Abschließende Bemerkung

Das Mäßigungsgebot ist in Deutschland gesetzlich geregelt und durch Rechtsprechung ausdifferenziert. Maßgeblich ist die Bewertung des Einzelfalls. Da der gesamte Lebensbereich als Richter umfasst ist, gilt es die „Mahnung“ des Gesetzgebers zu beachten, als Richter „die Würde seines Amtes und das Vertrauen in seine Unabhängigkeit nicht [zu] vergessen“.51 Zur Frage, ob neben der gesetzlichen Regelung eine Kodifizierung richterethischer Bestimmungen in Deutschland sinnvoll ist, kann der heutige Rechtsvergleich sicherlich beitragen.

Je vous remercie de votre attention!

Quellen u. a.:
Schneider, Richterliche Ethik im Spannungsfeld zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Gesetzesbindung, Dissertation, 2017.
Schmidt-Räntsch, Deutsches Richtergesetz, Kommentar, 6. Auflage 2009,
§ 39 DRiG.

48 Vgl. Brandb. Dienstgericht für Richter, Urteil vom 10. November 2023 – DG 1/21 –, juris Rn. 64 ff., 71, hier Fahren ohne Fahrerlaubnis, § 142 StGB.
49 Vgl. § 63 f. DRiG, § 78 LRiStaG NRW, bzw. die Kürzung oder Aberkennung des Ruhegehalts.
50 Richterdienstgerichte sind in NRW erstinstanzlich das Dienstgericht und in der Berufungsinstanz der Dienstgerichtshof für Richter beim OLG Hamm, § 66 LRiStaG NRW. Revisionsgericht ist der BGH,
§ 62 Abs. 2 DRiG.
51 Vgl. BT-Drs. 3/2785, S. 15.

Mäßigungsgebot FR

von Mathieu Heintz, Verwaltungsrichter, an die Regionale Kammer der Rechnungsprüfer der Region Auvergne Rhône-Alpes abgeordnet

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die ethischen Rechte und Pflichten der französischen Verwaltungsrichter im Wesentlichen durch die Bestimmungen des code général de la fonction publique, des code de justice administrative und der Ethikcharta der Verwaltungsgerichtsbarkeit geregelt werden.

Verwaltungsrichter genießen wie alle Beamten die Meinungsfreiheit, die durch Artikel
L. 111-1 des Code général de la fonction publique garantiert wird.

Unter Meinungsfreiheit (oder Gewissensfreiheit) versteht man gemeinhin die garantierte Freiheit eines jeden Menschen, so zu denken, wie er oder sie will, sei es zum Beispiel in politischen oder religiösen Angelegenheiten und im weiteren Sinne in allen sozialen Fragen. Diese Freiheit ist eng verbunden mit der Meinungsäußerungsfreiheit, die ihre äußere Manifestation ist und die auch für Beamte anerkannt ist.

In dieser Hinsicht erkennt die Ethikcharta der Verwaltungsgerichtsbarkeit speziell in Bezug auf die Verwaltungsrichter ihre Freiheit an, alle ihre Meinungen, seien sie politischer, rechtlicher, religiöser usw. Art, öffentlich zu äußern. Es sieht auch vor, dass es den Richtern „freisteht, einer politischen Partei, einer Gewerkschaftsorganisation oder einem Verband beizutreten“. Und es verankert die Freiheit, bei jeder Wahl als Kandidat zu kandidieren.

Die Meinungsfreiheit, die den Richtern auf diese Weise gewährt wird, ist jedoch nicht ohne Grenzen. Sie sind wie alle Beamten zur Zurückhaltung verpflichtet1.

1 Ethikcharta der Verwaltungsgerichtsbarkeit – § 40
Diese Verpflichtung wurde allen Beamten durch die Verwaltungsrechtsprechung ohne Text auferlegt2. Der Code de la fonction publique erwähnt diese Verpflichtung nicht ausdrücklich, außer indirekt durch die in Artikel L. 121-2 des Gesetzbuchs festgelegte Neutralitätspflicht oder in religiösen Angelegenheiten, für die derselbe Artikel vorsieht, dass der Beamte „insbesondere seine religiösen Überzeugungen nicht bekundet“. Da dieser Grundsatz nicht in einem Text mit allgemeiner Geltung verankert ist, gibt es auch keine Definition dieser Zurückhaltung, auch wenn die Rechtsprechung seine Konturen präzisiert hat3.

Für Verwaltungsrichter ist es jedoch interessant festzustellen, dass der code de justice administrative ausdrücklich auf den Begriff der Zurückhaltung Bezug nimmt, indem er besagt, dass Richter „jede Handlung oder jedes Verhalten öffentlicher Art zu unterlassen haben, die mit der Zurückhaltung, die ihnen durch ihre Funktionen auferlegt wird, unvereinbar sind“.4 Darüber hinaus legt die Ethikcharta des Verwaltungsgerichtsbarkeit den sachlichen Geltungsbereich dieser Verpflichtung fest – sie gilt sowohl für die berufliche als auch für die außerberufliche Tätigkeit des Richters – und legt ihre Konturen fest: politische Aktivitäten, Vereinigungen, öffentliche Meinungsäußerung, soziale Netzwerke usw.

Schließlich enthüllt die Ethikcharta implizit die Philosophie, die die dem Richter auferlegte Pflicht zur Zurückhaltung zugrunde liegt: Er stellt fest, dass dieser Grundsatz „in Anbetracht der Art der ausgeübten Aufgaben besonders akut ist in Bezug auf die Mitglieder der Gerichte, sowohl für die Verwaltungsrichter als auch für die ordentlichen Richter“. Mit anderen Worten ist es verständlich, dass die dem Richter auferlegte Pflicht von der Tatsache geleitet wird, dass die Grundsätze der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gewahrt werden, die den Richter von den anderen Amtsträgern unterscheiden5.

2 31. Januar 1919, Terrisse, S. 108; 11. Januar 1935, Bouzanquet, S. 44; 10. März 1971, Jannès,
Seite 202
3 CE, 29. Dezember 2021, Frau Roblin, Nr. 433838, B; 20. Juli 2021, M. Morra, n°0 444784, B; 27. Januar 2020, Frau Kabèche, n° 426569, B
4 Artikel L. 231-1-1 Absatz 2 des Gesetzbuchs über die Verwaltungsgerichtsbarkeit
5 Conclusions R. Cghambonk, under CE, 25. März 2020, Syndicat de la juridiction administrative, n° 421149
Daher werden wir in den folgenden Entwicklungen sehen, dass, wenn der devoir de réserve für Verwaltungsrichter sowohl im Rahmen ihrer beruflichen als auch ihrer außerberuflichen Tätigkeit gilt, es darum geht, sicherzustellen, dass die Grundsätze der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Richters nicht missachtet werden und nicht in Frage gestellt werden können.

Die Pflicht zur Zurückhaltung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit des Richters

Vorab sollte klargestellt werden, dass die Pflicht zur Zurückhaltung nicht mit der beruflichen Geheimhaltungs- und Schweigepflicht des Magistrats verwechselt werden darf. Die Geheimhaltungspflicht betrifft alle Tatsachen, Informationen oder Dokumente, von denen der Magistrat in Ausübung oder anlässlich der Ausübung seines Amtes Kenntnis erlangt hat. Und sie erstreckt sich selbstverständlich auch auf die Geheimhaltung von Beratungen.

Die Pflicht zur Zurückhaltung erstreckt sich auf alle Tatsachen, Informationen oder Unterlagen, von denen der Richter in Ausübung seines Amtes oder im Zusammenhang mit der Ausübung seines Amtes Kenntnis erlangt hat6. Und das gilt natürlich auch für die Geheimhaltung der Beratungen7.

Die Pflicht zur Zurückhaltung betrifft nicht den Inhalt der Akten, von denen der Richter Kenntnis hat, sondern vielmehr die Tatsache, dass er sich in seiner öffentlichen Äußerung auf seine Eigenschaft als Richter beruft oder auch Vorsicht und Mäßigung an den Tag legt.

Nach der Ethikcharta der Verwaltungsgerichtsbarkeit gilt die Pflicht zur Zurückhaltung nämlich für andere berufliche Tätigkeiten, die der Richter während seiner Laufbahn ausüben muss: Unabhängig davon, ob er zu einer Verwaltung zur Verfügung gestellt ist, ob er eine Nebentätigkeit ausübt oder ob er Rechtsanwalt ist, kann er sich nicht auf seinen Status als Richter berufen, insbesondere dann, wenn er die Institution, bei

6 Artikel L. 121-6 und L. 121-7 des Code général de la fonction publique
7 Artikel L. 8 des Gesetzbuchs über die Verwaltungsgerichtsbarkeit
der er angestellt ist, vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit vertritt8. Mit diesem Vorbehalt soll verhindert werden, dass die Teilnahme des Richters am Verfahren als eine Form der Verletzung der Gleichheit zum Nachteil der anderen Partei oder als ein Versuch der Beeinflussung des angerufenen Richters wahrgenommen wird9.

Andererseits verbietet die Ethikcharta dem Richter nicht, seine Position zu nutzen, um Artikel in juristischen und allgemeiner wissenschaftlichen Zeitschriften zu verfassen, sowie universitäre Lehre zu erteilen10. In diesem Fall sind jedoch Mäßigung und Umsicht des Richters erforderlich11. Es geht darum, sicherzustellen, dass die Äußerungen des Richters nicht als Stellungnahmen seinerseits zu sozialen Fragen oder als Verpflichtung der Institution, der er angehört, interpretiert werden können12.

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass bei der Ausübung der gewerkschaftlichen Verantwortung die Pflicht zur Zurückhaltung des Richters flexibler beurteilt wird, sofern der Zweck der Bemerkungen darin besteht, die beruflichen Interessen der Richter zu verteidigen13.

Die Pflicht zur Zurückhaltung bei der außerberuflichen Tätigkeit des Richters

Im Zusammenhang mit außerberuflichen Tätigkeiten und im Allgemeinen weist die Ethikcharta darauf hin, dass der Status eines Mitglieds der Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht nur bei der öffentlichen Äußerung politischer Meinungen, sondern auch bei allen sozialen Themen, insbesondere bei der Unterzeichnung einer Petition, nicht erwähnt werden darf14.

Und selbst wenn sie sich unter ihrem eigenen Namen äußern, ohne ihren Status zu erwähnen, müssen die Mitglieder der Verwaltungsgerichtsbarkeit sehr vorsichtig sein,

8 Ethikcharta der Verwaltungsgerichtsbarkeit – § 44
9 Ethikkollegium – Stellungnahmen Nr. 2014/1 und 2015/4
10Ethikcharta der Verwaltungsgerichtsbarkeit – § 45
11 Dito
12 Ethikkollegium – Stellungnahmen Nr. 2021/1 und 2021/3
13 Ethik der Verwaltungsgerichtsbarkeit – § 42. Siehe auch CE, 31. Januar 1975, Sieur Exertier, Nr. 88338, A; 31. Januar 1975, Herr Volff, Nr. 84791, A
14 Ethikcharta der Verwaltungsgerichtsbarkeit – § 44
wenn sie alle ihre politischen, rechtlichen, religiösen oder assoziativen Meinungen öffentlich äußern.15

Sie müssen sich auch jeder öffentlichen Äußerung zugunsten von Meinungen oder Tätigkeiten enthalten, die als solche mit der Art oder der Würde der ausgeübten Aufgaben unvereinbar sind16.

Schließlich reserviert die Ethikcharta einen besonderen Platz für Meinungsäußerungen in sozialen Netzwerken, für die er die größte Zurückhaltung befürwortet, insbesondere wenn der Zugang zu diesen Netzwerken nicht ausschließlich einem privaten Kreis vorbehalten ist17. In der Charta heißt es auch, dass es darum geht, sicherzustellen, dass die Offenlegung der vom Richter in sozialen Netzwerken vertretenen Standpunkte bei den Prozessparteien und in den Medien keine Zweifel an der Unparteilichkeit des Richters aufkommen lässt. Und in jedem Fall empfiehlt die Charta, dass der Benutzer die Einstellungen seines Kontos so anpasst, dass sein Profil nicht in den Suchmaschinenergebnissen erscheint18.

Diese Empfehlungen der Charta der sozialen Netzwerke wurden vor dem Conseil d‘Etat angefochten, der ihre Verhältnismäßigkeit mit der Meinungsfreiheit überprüfte. Und der High Court stellte fest, dass diese Empfehlungen verhindern sollen, dass die Verbreitung der Äußerungen von Richtern in sozialen Netzwerken die Natur und die Würde der von ihnen wahrgenommenen Aufgaben beeinträchtigt, und die Unabhängigkeit, die Unparteilichkeit und das ordnungsgemäße Funktionieren der Verwaltungsgerichtsbarkeit gewährleisten sollen. Dabei greifen diese Empfehlungen nicht in die Meinungsfreiheit der Richter ein19. *

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Anwendungsbereich der Pflicht zur Zurückhaltung für französische Verwaltungsrichter besonders weit ist. Am Ende dieser Präsentation kristallisieren sich zwei Hauptlinien heraus. Der devoir de réserve impliziert einerseits Vorsichtsmaßnahmen bei der Erwähnung des Status eines

15 Ethikcharta des Verwaltungsgerichts – § 46
16 Dito
17 Ethikcharta der Verwaltungsgerichte – § 47
18 § 47-1

Mäßigungsgebot IT

Raffaello Sestini

3° table-ronde
Die Pflicht zur Zurückhaltung:
Die Verpflichtung des Richters, sich jeglicher Meinungsäußerung zu enthalten oder Situationen zu vermeiden, in denen seine Unparteilichkeit in Zweifel gezogen werden könnte.
ITALIENISCHER BERICHT – RAFFAELLO SESTINI

– „Wenn wir sterben werden, wird man uns nicht fragen, wie gläubig wir waren, sondern wie glaubwürdig.“
Die Glaubwürdigkeit des Richters ist daher der Wert, der das Verhältnis von Ethik und Gerechtigkeit zusammenfasst, gemäß den Worten von Rosario Livatino, einem jungen Strafrichter, „der kleine Richter“ genannt, bekennender Katholik, doch von kristallklarer Unparteilichkeit und großem bürgerschaftlichen Engagement, der im Alter von 38 Jahren von der Mafia ermordet und 2021 von Papst Franziskus seliggesprochen wurde.
Livatino, der Italien von seiner besten Seite vertritt, beweist, dass Richter religiöse oder politische Überzeugungen und soziales Engagement mit tadelloser und unparteiischer Berufsausübung vereinbaren können. Livatino selbst erläutert in einer Konferenz über „Die Rolle des Richters in einer sich wandelnden Gesellschaft“ aus dem Jahr 1984, die aber immer noch relevant ist, die Notwendigkeit für den Richter, sich der Gesellschaft und dem sozialen und technologischen Wandel zu öffnen und gleichzeitig alle notwendigen Vorkehrungen zu treffen, um nicht nur seine Unparteilichkeit, sondern auch sein – ebenso wesentliches – Bild der Unparteilichkeit zu gewährleisten.
– Nach Livatino entwickelt sich die Gesellschaft ständig weiter, während der Richter „nur ein Staatsbediensteter ist, der mit der ganz besonderen Aufgabe betraut ist, die Gesetze anzuwenden“, oder „ein bloßes Spiegelbild des Rechts, das er anzuwenden hat“. In einer zunehmend fließenden und komplexen Gesellschaft, die vor allem in Italien durch eine zu umfangreiche und uneinheitliche Gesetzgebung gekennzeichnet ist, wird jedoch die Rolle des Gesetzesauslegers immer wichtiger, der daher „aus seinem eigenen Elfenbeinturm der Unveränderlichkeit, des sozialen Winterschlafs“ herauskommen und aufmerksam und sensibel für das werden muss, was neben ihm entsteht, sich verändert und verloren geht.
In einem solchen Kontext „ist die externe Glaubwürdigkeit der Justiz als Ganzes und in jedem ihrer Bestandteile ein wesentlicher Wert in einem demokratischen Staat“, aber sie ist auch die Voraussetzung dafür, dass die Gesellschaft akzeptiert, dass der Richter „eine so große Macht über andere hat“.
– Auch wenn die Unabhängigkeit des Richters „in seiner Glaubwürdigkeit liegt, die er in den Mühen seiner Entscheidungen und in jedem Augenblick seiner Tätigkeit zu erobern vermag“, so ist doch „die Behauptung, zurückzuweisen, wonach er, sobald er seine
beruflichen Pflichten mit Gewissen und Gewissenhaftigkeit erfüllt hat (…) in seinem Privatleben wie jeder andere Bürger auch tun und lassen kann, was er will.“
Insbesondere – um nochmals Livatino zu zitieren – »muss der Richter nicht nur unabhängig sein, sondern auch unabhängig scheinen, um zu signalisieren, dass es neben einem gewiss vorrangigen materiellen Problem ein anderes, unauslöschliches Problem der Form gibt. Die Unabhängigkeit des Richters liegt in der Tat nicht nur in seinem Gewissen (…) in seinem technischen Wissen, (…) in der Klarheit und Linearität seiner Entscheidungen, sondern auch in seiner Rechtschaffenheit, in der Durchsichtigkeit seines Verhaltens auch außerhalb der Mauern seines Amtes, in der Normalität seiner Beziehungen und deren Ausdrucks im gesellschaftlichen Leben, in der Wahl seiner Freundschaften, in seiner Weigerung, sich auf erlaubte, aber riskante Initiativen und Geschäfte einzulassen.“
Daher „muss ein Richter auf der Höhe der Zeit in der Lage sein, gerade aus Achtung vor einer öffentlichen Ethik, die mit dem Amt verbunden ist, einige Einschränkungen auch für seine eigene Freiheitssphäre zu akzeptieren“.
– Die vorstehenden Erwägungen haben unmittelbare praktische Auswirkungen, z. B. in Bezug auf die Disziplinarvorschriften, die es dem italienischen Verwaltungsrichter verbieten, mit den Verfahrensbeteiligten und ihren Rechtsanwälten zu verkehren und ihnen Informationen über das Verfahren offenzulegen, durch die die Gleichheit der Parteien gestört würde; oder die es ihm verbieten, öffentlich Meinungen oder Einschätzungen zu den ihm anvertrauten Verfahren zu äußern; oder die eine Verpflichtung zur Enthaltung begründen, wenn seine persönlichen oder wirtschaftlichen Beziehungen oder seine früheren allgemeinen Äußerungen jedenfalls den Eindruck einer vorgefassten Meinung für die Entscheidung des Einzelurteils erwecken können.
– Dieselben Erfordernisse haben den italienischen Gesetzgeber dazu veranlasst, die für den Verwaltungsrichter vorgesehene Möglichkeit, außerinstitutionelle Ämter im Dienst von Politik und Verwaltung zu übernehmen, (in Bezug auf Anzahl, Art und Besoldung) zu begrenzen und in jüngerer Zeit vor der Wiederaufnahme seiner richterlichen Funktionen eine Karenzzeit oder „Abkühlung“ vorzuschreiben, vor der Rückkehr in das Richteramt nach zeitweiser Abordnung in politische Ämter oder Aufgaben in engem Kontakt zu Politikern (z.B. Leitung eines Ministerbüros), die ihn als nicht mehr unabhängig erscheinen lassen.
– Um das Denken von Livatino zu aktualisieren, darf der Richter, sobald er von seinem „Elfenbeinturm“ herabgestiegen ist, beileibe nicht aufhören, zu experimentieren, zu studieren und zu versuchen, sowohl in seinem Berufs- als auch in seinem Privatleben die sich stets beschleunigende Entwicklung der Informationstechnologie und der Telematik mit der Entwicklung des Internets und der sozialen Netzwerke, des „Metaverse“ und der „künstlichen Intelligenz“ zu verstehen (was immer noch eine spannende und nicht zu vernachlässigende Herausforderung ist, verglichen mit der allzu weit verbreiteten „natürlichen Dummheit“).
In der Tat sind die beispiellosen Möglichkeiten, auch für die Stärkung und „Glaubwürdigkeit“ des Justizdienstes, offensichtlich, die die oben erwähnte technologische Entwicklung bietet, die es beispielsweise der italienischen Verwaltungsgerichtsbarkeit ermöglicht hat, die Pandemie zu überwinden und nun den Rückstand durch einen breiten und mutigen Einsatz von Video-Gerichtsverhandlungen zu verringern.
– Ebenso offensichtlich sind die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und sozialen Folgen – die der Richter nicht ignorieren kann –, die mit der bisher undenkbaren Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten des Denkens durch weit verbreitete und praktisch unbegrenzte Kanäle verbunden sind, die (im Gegensatz zu den traditionellen Massenmedien wie dem Fernsehen) allen Beteiligten Möglichkeit zu Feedback geben und somit in der Lage sind, neue Räume der Freiheit, aber auch der Verantwortung zu eröffnen.
– All dies führt zu einer Änderung der Rechtsprechung des italienischen Verwaltungsgerichts auf dem Gebiet der Kommunikation , die sich einst hauptsächlich mit Rechtsstreitigkeiten über die Zuteilung der begrenzten terrestrischen Fernseh- und Funkfrequenzen, die Modalitäten der Verbreitung der Presse und Investitionszuschüssen für Zeitungen befasste, nun aber auch über das Funktionieren elektronischer Ausschreibungen und Online-Rankings entscheidet und über die Folgen der Nutzung des Netzes, z. B. in Bezug auf die Verhängung von Verbotsmaßnahmen für Fußballfans oder Strafmaßnahmen für Studenten und Angestellte des öffentlichen Dienstes, nach Kommentaren, die dem Netz leichtfertig im ruhigen Halbdunkel einer Umgebung anvertraut wurden, von der man fälschlicherweise annahm, dass sie begrenzt und nicht gefährlich sei.
– Das letztgenannte Profil erlegt allen Beamten, insbesondere aber den Verwaltungsrichtern und allen anderen Richtern, neue und größere Vorsichtsmaßnahmen auf, die nunmehr ihre Verschwiegenheitspflichten nicht nur dadurch erfüllen müssen, dass sie es vermeiden, mit den Parteien und anderen Beteiligten zu verkehren, und Informationen über den Inhalt ihrer richterlichen Tätigkeit nicht durchsickern lassen dürfen (es heißt, dass Richter nur durch Urteile sprechen), und zwar nicht nur, indem man sich von den Versuchungen des Lärms der Presse und des Fernsehens fernhält, sondern auch, indem man mit größter Sorgfalt darauf achtet, öffentliche Auftritte und Äußerungen zu vermeiden, die sich in den sozialen Netzwerken und im Netz unbestimmt und unkontrolliert verbreiten und der immer notwendiger werdenden „Glaubwürdigkeit“ des Richters schweren Schaden zufügen könnten.
– Die daraus resultierende Notwendigkeit, die „ethische Haltung“ der Justiz in der Komplexität der heutigen Zeit, einschließlich der privaten Nutzung der sozialen Medien durch jeden Richter, zu skizzieren, hat das Amt für Studium und Ausbildung der italienischen Verwaltungsgerichtsbarkeit dazu veranlasst, Schulungsseminare für Richter zu organisieren, und hat den Präsidialrat der italienischen Verwaltungsgerichtsbarkeit dazu veranlasst, in der Sitzung vom 25. März 2021 die Resolution Nr. 40 „Über die Nutzung elektronischer Kommunikationsmittel und sozialer Medien durch Verwaltungsrichter“ zu verabschieden, die an die „Non-Binding Guidelines on the Use of Social Media by Judges“ der Vereinten Nationen von 2019 erinnert, die Verhaltensregeln enthalten, die für Verwaltungsrichter als Leitfaden dienen und daher dazu beitragen können, Unklarheiten auszuräumen, die für disziplinarische Zwecke relevant sind.
– Die fragliche Entschließung enthält in der Einleitung eine „Überlegung“ zur „Schaffung einer fast ‚extraräumlichen und extrazeitlichen‘ Dimension der Nutzung des Internets im Allgemeinen und der sozialen Medien im Besonderen“. In der Tat „lebt der Benutzer in der einzigartigen Situation, sich in der unmittelbaren Zukunft auf sein eigenes Verbindungswerkzeug zu beziehen, ohne immer zu erkennen, dass der eingegebene Inhalt in einem immensen, praktisch unbegrenzten Raum einfließt und, was noch wichtiger ist, dazu bestimmt ist, in einem zeitlosen Bereich zu bleiben, der gewöhnlich als „mediale

ACA-Bericht

Yves Gounin, délégué aux relations internationales du Conseil d‘Etat

Liebe Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland, Italien und Frankreich,
Mein Name ist Yves Gounin. Ich arbeite im Staatsrat. Ich bin für die internationalen Beziehungen zuständig und unterstehe dem Vizepräsidenten des Staatsrats. Ich hatte daher die Chance, zwischen 2013 und 2018 mit Herrn Sauvé zusammenzuarbeiten und ihn auf vielen Auslandsreisen zu begleiten, unter anderem nach Rom an den Sitz des Consiglio di Stato und in Leipzig an den Sitz des Bundesverwaltungsgerichts.
Ich bin Ihnen besonders dankbar dafür, dass Sie mir in Ihrem sehr dichten Programm einen Platz eingeräumt haben.
Berufsethik ist in der Tat ein Fach, das mich sehr interessiert. Ich unterrichte es an der Verwaltungsakademie ENA/INSP und bin Mitglied des Berufsethikrats der Finanzgerichtsbarkeit.
Ethik ist ein Thema, das wir in unseren internationalen Tagungen häufig ansprechen. Ob es unsere bilateralen Treffen sind – das Thema stand auf der Tagesordnung des letzten Arbeitsseminars, das wir im Oktober 2024 mit dem belgischen Staatsrat in Paris abgehalten haben, oder des letzten Arbeitsseminars mit dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig im Mai 2023. Oder ob es sich um unsere multilateralen Treffen handelt: Es wurde auf dem von der Internationalen Vereinigung Oberster Verwaltungsgerichte (AIHJA/IASAJ) im September 2020 in Athen organisierten Seminar oder auf einem Treffen des Europäischen Bunds der Verwaltungsrichter (FEJA/AEAJ) im Mai 2023 angesprochen, das der Meinungsfreiheit von Richtern gewidmet war.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um Ihnen vom letzten ACA-Europe-Seminar zu berichten, das am 29. November in Versailles stattgefunden hat.
ACA-Europe ist ein Verein belgischen Rechts, in dem sich alle Staatsräte und oberste Verwaltungsgerichte der EU-Mitgliedstaaten zusammengeschlossen haben. Die Staatsräte bzw. obersten Verwaltungsgerichte der Beitrittskandidatenländer sind an seiner Arbeit beteiligt. Der EuGH ist ebenfalls Mitglied.
Die ACA-Präsidentschaft wechselt turnusmäßig alle zwei Jahre. Von 2012 bis 2014 hatte der französische Staatsrat, damals unter der Leitung von Jean-Marc Sauvé, diesen Vorsitz inne; ihm folgte 2018-2021 das Bundesverwaltungsgericht und 2021- 2023 der Consiglio di Stato. Mit einem Wort – und das wird Sie wahrscheinlich nicht überraschen –, unsere drei Länder spielen dort eine wichtige Rolle.
31 Institutionen waren in Versailles vertreten und 62 Teilnehmer.
Das Kolloquium wurde durch einen Fragebogen vorbereitet, der im März 2024 an alle Mitglieder verschickt wurde. Es gingen 34 Antworten ein, auf deren Grundlage ein allgemeiner Bericht verfasst wurde (er ist auf Französisch und Englisch auf der Website des Vereins verfügbar).

Wir hatten beschlossen, die Ethik auf zwei Ebenen zu behandeln, wobei wir, wie ich weiß, etwas willkürlich zwischen Form und Inhalt unterschieden. Die erste Gesprächsrunde befasste sich mit der Form, d. h. dem rechtlichen und institutionellen
Rahmen, unter dem Vorsitz von Rémi Bouchez, der gerade den Vorsitz der Verwaltungssektion abgegeben hatte, einer der fünf beratenden Sektionen des Staatsrates, die insbesondere für die Prüfung von Rechtstexten bezüglich des Öffentlichen Dienstes zuständig ist. Die zweite befasste sich mit der Sache, d.h. dem eigentlichen Inhalt der Ethikregeln, unter dem Vorsitz von Christian Vigouroux, einem anerkannten Berufsethikspezialisten in Frankreich, der ein Buch verfasst hat, das ein Standardwerk ist und mehrfach nachgedruckt wurde, und der jetzt den Vorsitz des Ethikkollegiums der Verwaltungsgerichtsbarkeit innehat und Mitglied des Obersten Rates der Justiz (Conseil supérieur de la magistrature) ist.
Die Arbeit in Versailles war nach dem „Stockholmer Modell“ organisiert: Es gab keine Redner auf der Liste, um die lange, manchmal etwas eintönige Abfolge langer Reden zu vermeiden. Wir setzten auf eine „agile“ Präsidentschaft, die fähig ist, kurze, spontane und bereichernde Redebeiträge hervorzurufen. Zugegebenermaßen konnten wir uns den Luxus einer Simultanübersetzung aus dem Französischen und dem Englischen leisten, was unseren Austausch flüssiger machte.

I – Der erste Runde Tisch befasste sich mit dem rechtlichen und institutionellen Rahmen der Berufsethik.
Dabei ging es im Grunde um die Frage: Teilen der französische Staatsrat und die obersten Verwaltungsgerichte der EU-Mitgliedstaaten die gleichen Regeln?
Die Antwort lautet eindeutig nein. Der Grund ist einfach: Keine supranationale Norm, weder das EU-Recht noch die EMRK, macht sie verbindlich. Berufsethik basiert auf nationalem Recht, nicht auf europäischem Recht.
Auch wenn es keine rechtliche Verpflichtung zur Umsetzung eines solchen Regelwerks gibt, haben die Antworten auf den Fragebogen und unsere Debatten in Versailles gezeigt, dass fast alle Beamten der EU-Mitgliedstaaten und fast alle Richter der obersten Verwaltungsgerichte berufsethischen Verpflichtungen unterliegen. Eine so weitgehende Übereinstimmung wirft Fragen auf. Woher kommt das? Dies wirft umso mehr Fragen auf, als diese Standards neu und fast gleichzeitig entstanden sind. Fast deckungsgleich und fast zeitgleich. Warum? Wieso haben alle unsere Institutionen, obwohl sie – ich wiederhole es – durch nichts dazu gezwungen sind – in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren fast gleichzeitig berufsethische Normen angenommen?
Angesichts der Antworten auf den Fragebogen haben wir versucht, dieses Phänomen auf einer Karte zu verzeichnen. Ich hätte gerne Trends identifiziert, Nordeuropa und Südeuropa gegenübergestellt, oder das Europa der 12 oder 15 mit den MOEL, die der EU 2004 oder 2007 beigetreten sind. Aber ich gestehe, dass ein solcher Versuch gescheitert ist. Wenn wir die Realität nicht verzerren, wenn es um Berufsethik geht, können wir Nordeuropa nicht gegen Südeuropa, Westeuropa gegen Osteuropa stellen. Anders ausgedrückt: Wir alle tun mehr oder weniger dasselbe, egal wo wir uns befinden.
Wie sehen diese ethischen Standards aus? 58 % der Befragten geben an, dass sie über einen Ethikkodex verfügen. Wir haben diejenigen, die keine hatten, gebeten, ihre Position zu erklären. Ihre Antwort war zweifach: Einige sagten uns, dass sie im Begriff seien, einen solchen zu erarbeiten, andere gestanden offen ein, dass sie dies nicht beabsichtigten, weil sie keine Notwendigkeit dafür sahen.
Es stellte sich eine besonders interessante rechtliche Frage: Wie rechtsverbindlich sind diese Chartas? Ist es Hard Law oder Soft Law? Und im letzteren Falle, welche Konsequenzen hat eine Missachtung dieser Normen? Die Frage kann auch anders formuliert werden: Wie unterscheidet sich die Berufsethik vom Disziplinarrecht, welches bekanntlich aus verbindlichen Regeln besteht, deren Missachtung den Zuwiderhandelnden Disziplinarstrafen aussetzt? Wenn ich den Ethikkodex missachte, setze ich mich dann solchen Sanktionen aus? Die Antworten auf diese schwierige Frage waren nuanciert: Nach Ansicht von 68 % der Befragten stellt ein Verstoß gegen die berufsethischen Verpflichtungen ihrer Mitglieder nicht unbedingt ein Fehlverhalten dar, das zu Disziplinarmaßnahmen führen kann, während dies bei 29 % der Befragten der Fall ist.
Der Fragebogen enthielt eine Reihe von Fragen zum Anwendungsbereich dieser Normen: Gelten sie nur für das Oberste Gericht? Oder gelten sie auch für Richter nachgeordneter Gerichte? Gelten sie an Gerichten, die diese Unterscheidung kennen, für Richter und Staatsanwälte? Gelten sie nur für amtierende Richter oder auch für Richter, die das Organ verlassen haben und/oder dorthin vorübergehend abgeordnet sind und ihr Amt nur auf Zeit ausüben? Die letzte Frage, über die die Erörterungen unserer Freunde vom Luxemburger Staatsrat interessant war: Gelten sie in gleicher Weise für Institutionen, die einen gerichtlichen Auftrag ausüben, und für solche, die zudem oder ausschließlich einen Beratungsauftrag ausüben?

In mehreren unserer Institutionen, angefangen beim Staatsrat von Frankreich, gibt es ein Berufsethikkollegium. Wie bei der Charta haben wir die Länder befragt, die kein solches Kolleg haben. Und unter denen, die sie besaßen, untersuchten wir ihre Zusammensetzung und ihre Befugnisse. Wir wissen zum Beispiel, dass seine Stellungnahmen in Frankreich nicht gerichtlich anfechtbar sind.

II. In der zweiten Gesprächsrunde wurden die ethischen Standards selbst, ihr Inhalt und ihre Anwendungsmodalitäten untersucht.
Ich werde Ihnen ein Geständnis machen: Das ist der Teil der Konferenz, der mir am besten gefallen hat, weil es die Dimension des Themas ist, die ich am lebendigsten finde. Aber es ist auch diejenige, bei der die Zusammenfassung am schwierigsten ist.
Dafür gibt es zwei Gründe:
Die berufsethischen Regeln bilden einen Korpus, dessen logische und systematische Darstellung nicht leicht fällt. Für die Erstellung des Fragebogens wurde beschlossen, sie in zwei Hauptkategorien zu unterteilen. Auf der einen Seite Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und die Vermeidung von Interessenkonflikten. Dies ist die Antwort auf die Frage: In welchem Zustand können Richter ihr Amt verrichten, ohne dass ihre Unparteilichkeit auch nur im geringsten in Verdacht gezogen werden kann? Auf der anderen Seite die Ausübung der persönlichen Freiheiten: Es geht darum, die Frage, die ich soeben gestellt habe, von der anderen Seite aus zu betrachten: Wenn der Richter eines obersten Verwaltungsgerichts oder das Mitglied des Staatsrats ein Bürger wie jeder andere ist und als solcher die allen Bürgern zuerkannten individuellen Freiheiten ausüben kann, erfordert sein Amt dann, die Ausübung bestimmter Freiheiten einzuschränken?
Die Regeln der Ethik bilden einen Korpus, über den sich alle mehr oder weniger einig sind. Unabhängigkeit? Unbefangenheit? Redlichkeit? Wer wagt es zu sagen, dass diese Werte nicht respektiert werden sollten?! Darin sind wir uns alle einig. Und diese Einstimmigkeit bietet keinen Anlass zu Diskussionen.

Das Interessante bestand darin, die konkrete Umsetzung dieser etwas abstrakten Grundsätze zu hinterfragen.
In welchen Fällen sollte ein Mitglied unserer Gerichte aufgrund familiärer oder freundschaftlicher Bindungen zu einer der Parteien oder wegen früherer Tätigkeiten davon absehen, in einer Rechtssache dem Spruchkörper anzugehören? Zu dieser sehr konkreten Frage hat die Assemblée du Contentieux des Staatsrats von Frankreich, unser Spruchkörper für besonders wichtige Leitentscheidungen, kürzlich ein Urteil gefällt. Und wir hatten das Glück, die Berichterstatterin für diesen Fall bei uns zu haben, um mit uns darüber zu sprechen.
Wie lässt sich die Neutralität, die von einem Mitglied des Obersten Gerichts erwartet wird, mit der Religionsfreiheit vereinbaren? Zu diesem Thema, das in Frankreich, dem Land des Säkularismus, sehr heikel ist, haben wir den Erfahrungsbericht eines griechischen Staatsrats gehört – und Sie wissen, dass Griechenland im Gegensatz zu Frankreich kein säkulares Land ist.
Eine weitere Frage wurde vom deutschen Kollegen vom Bundesverwaltungsgericht behandelt: Darf ein Richter eines höchsten Verwaltungsgerichts oder ein Staatsratsmitglied eine Tätowierung tragen, und wenn ja, welche Art von Tätowierung?
Noch eine weitere Frage betrifft Geschenke. Dürfen wir welche annehmen, und wenn ja, in welchen Grenzen und unter welchen Bedingungen? Diese Frage war Gegenstand eines praktischen Falles, der vom Vorsitzenden Vigouroux durch eine kürzlich abgegebene Stellungnahme des Berufsethikkollegiums der Verwaltungsgerichtsbarkeit angeregt worden war, anlässlich einer Anfrage aus… Marseille! Der Präsident des VG Marseille hat, glaube ich, das Kollegium mit der Frage der Teilnahme von Richtern und Bediensteten des Verwaltungsgerichts an Empfängen im Zusammenhang mit einer nautischen Veranstaltung befasst, die jedes Jahr von der Anwaltskammer und anderen Rechtsberufen organisiert werden. Diese Veranstaltung, die sich an alle Rechtsberufe richtet, umfasst zum einen Segelregatten und zum anderen ein Symposium zu einem Thema des Seerechts.
Der Präsident des polnischen obersten Verwaltungsgerichts und der stellvertretende Rechnungsprüfer des belgischen Staatsrats verwiesen auf zwei sehr ähnliche Fälle, die sie zu behandeln hatten: Kann ein Richter, der neben seiner richterlichen Funktion eine Lehrtätigkeit an der Universität innehat, die Entscheidungen seines Gerichts vor seinen Studenten kommentieren? Oder, abstrakt gefragt: Wie passen Zurückhaltungspflicht und Wissenschaftsfreiheit zusammen?
Eine letzte Frage, die der tschechische Kollege aufgeworfen hat: Kann man Richter sein und ein Vermögen erben, das man verwaltet und das, wenn man es richtig anlegt, Früchte trägt?
Verzeihen Sie dieses bunte Allerlei.
Wenn ich mir diese lange Aufzählung erlaubt habe, dann deshalb, weil sich der Inhalt dieser zweiten Gesprächsrunde nur sehr schwer zusammenfassen lässt. Denn die Fragen, die dort diskutiert wurden, waren nicht binär. Es waren keine Entweder-Oder-
Fragen. Ich nehme nur ein Beispiel: die sozialen Netzwerke. Es ist bemerkenswert, dass ihre Nutzung durch Richter oberster Verwaltungsgerichte nur bei 39 % der Befragten reguliert wird. Aber ich frage mich, ob diese Zahl aussagekräftig ist. Werden Institutionen, die die Nutzung sozialer Netzwerke durch ihre Mitglieder nicht ausdrücklich regeln, nicht die gleiche Regel anwenden wie diejenigen, in denen diese Nutzung ausdrücklich geregelt ist, nämlich: Vorsicht und Mäßigung bei der Meinungsäußerung walten zu lassen, um die Würde der Funktionen, das Ansehen und den Ruf der Institution nicht zu gefährden oder, um es in einem Wort auszudrücken, „Zurückhaltung“ zu üben.
Was ich aus dieser sehr lebhaften Diskussion gelernt habe, ist, dass die berufsethische Herangehensweise „im Wesentlichen kasuistisch“ ist (D. Labetoulle). Bei der konkreten Umsetzung der wichtigsten Grundsätze – über die wir uns alle einig sind –, können die länderspezifischen Bewertungen variieren.
Berufsethik ist nicht binär und gibt keine vorgefertigten Antworten. Um das Vokabular der EMRK zu verwenden: Für diese Grenzfälle bewegen wir uns innerhalb des „Ermessensspielraums“, der den nationalen Gerichten überlassen bleibt.
Vielen Dank !

Schlussansprache

Jean-Marc Sauvé,
Ehrenvizepräsident des Staatsrats von Frankreich

sehr geehrte Richterinnen und Richter, liebe Kolleginnen und Kollegen,
meine Damen und Herren,
Einleitung
1/ Als ich am 3. Oktober 2006 meine Antrittsrede als Vizepräsident des Staatsrats hielt, rechnete ich nicht damit, 20 Jahre später ein Zitat aus meinem Text als Motto einer Konferenz zu finden. In der Tat habe ich an diesem Tag gesagt: „Ich wünsche, dass wir bei unseren Tätigkeiten innerhalb und außerhalb des Palais Royal hohen berufsethischen Anforderungen gerecht werden: Der Vorbildcharakter des Staatsrats ist untrennbar mit dem seiner Mitglieder verbunden.“ Ich habe es gesagt, ich habe geglaubt, was ich gesagt habe, und in einem Kontext, der für die Berücksichtigung dieser Erfordernisse günstig war, konnte ich es umsetzen mithilfe einer Verbindung aus Gesetzesänderungen und spezifischen Initiativen für die gesamte Verwaltungsgerichtsbarkeit: den Staatsrat, die Oberverwaltungsgerichte, die Verwaltungsgerichte und den Asylgerichtshof.
Aber ich muss zugeben, dass, wenn 2013 die ersten großen Gesetze über die Ethik des öffentlichen Lebens verabschiedet wurden (Gesetze vom 11. Oktober 2013), die einen positiven Kreislauf in Gang setzten, der sich 2016 auf die Richter ausweitete, wir dies in Wirklichkeit zwei aufeinanderfolgenden Skandalen zu verdanken haben: der erste betraf einen Haushaltsminister, der Schatzmeister seiner Partei war und dessen Gattin das Vermögen der reichsten Frau Frankreichs verwaltete, die zudem ein wichtiger Spender dieser Partei war; der zweite, ein anderer Haushaltsminister, der wegen Steuerbetrugs verurteilt wurde, weil er einen Teil seines Vermögens im Ausland versteckt hatte. Nach dem ersten Skandal hat mich Präsident Sarkozy am 10. September 2010 gebeten, einen Bericht über die Ethik des öffentlichen Lebens zu erstellen (dieser Bericht wurde am 26. Januar 2011 offiziell vorgelegt), dieser hatte jedoch bis zum zweiten Skandal zu keinerlei Änderungen geführt.
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Ich werde mich daher davor hüten, meinen Einfluss zu übertreiben. In Ermangelung eines Gesetzes, das für Richter erst 2016 erlassen wurde, habe ich 2011 in Bezug auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit die Initiative ergriffen, um nach internen Vorarbeiten und auf der Grundlage meiner Befugnisse als Behördenleiter eine Berufsethikcharta zu entwickeln und ein Berufsethikkollegium zu schaffen, das allen französischen Verwaltungsgerichten gemeinsam ist und Stellungnahmen und Empfehlungen abgibt.
2/ Dem britischen Philosophen Jeremy Bentham (1748-1832) wird das Wort „Deontologie“ zugeschrieben. In seinem Werk Deontology or, The science of morality leitet Bentham diesen Begriff von zwei griechischen Wörtern ab: τò δέον / deon (das, was angemessen ist) und λογία / logos (Wissen); das heißt, das Wissen um das, was gerecht oder angemessen ist. Bentham behandelt Ethik in einem utilitaristischen Rahmen: „Eine Handlung ist gut oder schlecht, würdig oder unwürdig, […] sie verdient Anerkennung oder Tadel, je nach ihrer Tendenz, die Summe des öffentlichen Glücks zu vermehren oder zu verringern.“ Dieser Ansatz, der die Zunahme des öffentlichen Glücks als Kriterium für gutes oder schlechtes Handeln aufstellt, ermöglicht es seinem Autor, das Feld der Moral zu erweitern und das der Politik zu begrenzen, denn „die Gesetzgebung“, so sagt er, „ist nur zu sehr in ein Gebiet eingedrungen, das nicht das ihrige ist“.
Es ist nicht verwunderlich, dass Bentham, ein Spezialist für politische Philosophie, eine solche Frage aufgriff. Die Verderbnis der Menschen und ihrer Natur war in der Tat eine zentrale Frage des Zeitalters der Aufklärung und damit auch unserer Moderne1. Ohne diese Frage kann unser Zustand nicht verstanden werden. Zahlreiche Beispiele unterstreichen auch das Alter und die Stärke des Erfordernisses der Redlichkeit im öffentlichen Leben und implizit die Auswüchse, die stigmatisiert und bekämpft werden mussten. In Frankreich zum Beispiel finden wir bereits im 13. (1254) und 14. Jahrhundert (1303 und 1388) große Verordnungen, die sehr strenge Anweisungen geben, wie die Berufsethik der Vertreter der königlichen Macht aussehen sollte, insbesondere die Vermeidung von Interessenkonflikten, auch wenn diese Begriffe nicht verwendet wurden.
Fragen der Berufsethik, insbesondere von Trägern öffentlicher Ämter, sind daher weder historisch noch philosophisch neu.
3/ Das gegenwärtige Aufkommen der Forderung nach Ethik, die sich auf alle Berufe und nicht nur auf Amtsträger und Richter erstreckt, ist auf zahlreiche soziale und kulturelle Faktoren zurückzuführen.
Erstens führt die zunehmende Komplexität unserer Gesellschaften, die durch immer stärkere Wechselwirkungen zwischen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Akteuren gekennzeichnet sind, zu einer Vermehrung von Situationen, in denen
1 R. Chalmin, Lumières et corruption, Paris, Honoré Champion, 2010.
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Interessenkonflikte auftreten können und in denen ein präziser Ethikkodex erforderlich ist.
Zweitens spielen der Zusammenbruch der einigenden Ideologien und der Zerfall der sozialen Bindungen eine Rolle: Der verschärfte Individualismus führt zur Bereitschaft, „die anderen“, d.h. den Rest der Welt, aller Verwerflichkeiten zu verdächtigen; Insbesondere der Staat, die Behörden und die verfassungsmäßigen Gewalten wie die Justiz entgehen nicht einem manchmal berechtigten, oft aber überzogenen Misstrauen und Verdächtigungen, die in den letzten Jahrzehnten sogar zugenommen haben.
Drittens bedeutet die Kultur der Transparenz, dass das, was unbekannt oder harmlos war, jetzt öffentlich ist und in der heutigen Kultur des Misstrauens kritisiert oder sogar verurteilt werden kann. Es gibt auch eine tugendhaftere Ursache für den Aufschwung der Berufsethik: In einer Demokratie müssen diejenigen, die ein öffentliches Amt übernehmen, Regeln beachten und sich einer Form der Kontrolle unterwerfen, die nicht nur intern sein kann.
Es liegt auf der Hand, dass die Öffentlichen Gewalten und das Justizsystem im Mittelpunkt der wachsenden Forderung nach Berufsethik stehen, und zwar aus einem einfachen Grund: Dem Allgemeininteresse oder der Justiz zu dienen, ist kein Privileg, sondern zieht Pflichten nach sich. Insbesondere die Grundsätze der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, die für die Justiz gelten, bilden die Grundlage für vielschichtige Verpflichtungen bei der Ausübung richterlicher Funktionen. Zwischen den Erwartungen der Öffentlichkeit und dem Bewusstsein für die beruflichen Anforderungen, die auf uns lasten, laufen die Tendenzen eng zusammen.
I- Die wesentlichen Merkmale der richterlichen Berufsethik
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Berufsethik der Richter erheblich verändert. Abgesehen von den bewährten Praktiken, die mehr oder weniger gleich sind und sich aus den Grundsätzen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ergeben, sind wir von einem individuellen und informellen Ansatz zu einem kollegialeren und strukturierteren Ansatz übergegangen, da die korrekte Funktionsweise und der Ruf eines Gerichts von den Antworten auf berufsethische Fragen abhängen kann.
A/ Die Berufsethik war einst eine Gewissensfrage für den Einzelnen und gehörte zu den ungeschriebenen und oft unausgesprochenen Bräuchen eines Gerichts: Es gab Praktiken, fast Riten und eine bestimmte Vorstellung von der guten Rechtspflege, die die Älteren ihren jüngeren Kollegen lehrten, ohne es zu sagen. So haben wir zum Beispiel im Staatsrat festgestellt, dass einige Kolleginnen und Kollegen sich im Urteil über einen Fall enthielten, ohne jedoch den Gerichtssaal zu verlassen oder die Gründe für ihre Enthaltung darzulegen. Diese Fragen wurden nie aufgeworfen, außer vielleicht in Gesprächen auf dem Flur oder in der Bibliothek. Nach und nach lernten die Jüngeren
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die Grundlagen der Berufsethik, indem sie die guten Praktiken der Beratung verinnerlichten.
Von nun an, so schreibt der Vorsitzende Richter Labetoulle, der der erste Präsident des Berufsethikkollegiums der französischen Verwaltungsgerichtsbarkeit war, „ist die Berufsethik über die Sphäre des Gewissens des Einzelnen hinausgegangen“.2 „Wir legen nun nicht nur uns selbst gegenüber Rechenschaft ab, sondern auch gegenüber der Gesellschaft oder zumindest der Gemeinschaft der Rechtssuchenden. Indem sie dazu anhält, sich so zu verhalten, dass „jeder berechtigte Zweifel vermieden wird“, führt die Theorie des Anscheins dazu, den Blick des Anderen zu berücksichtigen. Und da wir von da an nicht mehr nur in uns selbst nach Teilen einer Antwort suchen, haben wir das Bedürfnis, über gemeinsame Orientierungspunkte zu verfügen, Anleitung und Aufklärung zu bekommen: Wir kennen die Regel, aber bis wohin greift sie? Wo soll ihre Grenze gesetzt werden?“3
Anders gesagt, die Richter sollen mit ihren Fragen, ihren Dilemmata oder ihrer Unwissenheit nicht alleine gelassen werden, zumal die Grundsatztexte, die für sie gelten, selten klare und konkrete Antworten auf ihre Fragen geben. Berufsethik und insbesondere Unparteilichkeit oder die Vermeidung von Interessenkonflikten sind nicht angeboren. Sie erfordern Wachsamkeit, Auffassungsgabe und Beratung. Sie erfordern um so mehr eine gemeinsame Herangehensweise, als die Richter gegenüber der Gesellschaft Rechenschaft ablegen müssen, d.h. gegenüber den Streitparteien, der Gemeinschaft der Juristen und weiter gefasst den Bürgern.
In diesem Kontext wurden im Laufe der Zeit Chartas oder Ethikleitfäden erstellt, um Richtern prinzipielle Empfehlungen und Beispiele für bewährte Verfahren zu geben, und es wurden auch Beratungsgremien geschaffen, die Empfehlungen oder Stellungnahmen zu Fragen von Richtern, Gerichtspräsidenten, Gerichtsverwaltungsleitern oder Obersten Justizräten abgeben, sofern letztere Organe nicht selbst die Rolle einer berufsethischen Beratungsinstanz übernehmen.
B/ Dieser Gesamtansatz scheint in den drei auf dieser Tagung vertretenen Ländern angewandt worden zu sein, auch wenn es erkennbare Unterschiede gibt.
1/ In Deutschland werden die Pflichten der Richter vorrangig per Gesetz geregelt: Grundgesetz, Bundesgesetze und Landesgesetze. So sieht das Richtergesetz (DRiG) vor, dass sich Richterinnen und Richter sowohl innerhalb als auch außerhalb ihres Amtes, auch bei politischer Betätigung, so zu verhalten haben, dass das Vertrauen in ihre Unabhängigkeit nicht gefährdet wird (§ 39).
Auch die Regeln für die Enthaltung sind streng festgelegt, ebenso wie diejenigen, die die Unparteilichkeit des Verfahrens oder die Zurückhaltungspflicht der Richter
2 Daniel Labetoulle, Justice et cassation, 2022, S. 73 ff.
3 Ebd.
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vorsehen. Auch Nebentätigkeiten von Richtern sind sehr reglementiert. Das Gesetz schützt die Unabhängigkeit der Richter ebenso wie es ihre Tätigkeit regelt.
In Ermangelung eines verbindlichen Kodex für die Berufspflichten von Richtern ist der gemeinsame Ethikkodex für Angehörige der Rechtsberufe, insbesondere für Rechtsanwälte, eine Quelle der Inspiration. Auch der Ausbildung wird viel Aufmerksamkeit geschenkt. Zudem schaffen die internen Debatten in den Gerichten und die Positionen der Berufsverbände ein Klima, das der Berücksichtigung ethischer Anforderungen förderlich ist, aber natürlich ohne verbindliche Normen zu setzen.
b) In Italien, wie auch in Frankreich, gibt es Grundsätze, die Verwaltungsrichtern und Beamten gemeinsam sind, wie z. B. Unparteilichkeit oder Bindung an das Gesetz. Ich stelle fest, dass zahlreiche und detaillierte Texte das Disziplinarverfahren der Richter regeln, dass es aber auch seit langem Ethikkodizes für Richter des Staatsrats (1994, geändert im Jahr 2007), der regionalen Verwaltungsgerichte (1994, geändert im Jahr 2021) und des Präsidialrats für Verwaltungsgerichtsbarkeit (2010) gibt. Diese Kodizes enthalten keine rechtlichen Verpflichtungen, und ihre Nichteinhaltung kann daher nicht direkt zu Disziplinarstrafen führen.
c) In Frankreich wurden die eher unvollständigen Bestimmungen des Verwaltungsgerichtsgesetzbuchs durch das Gesetz vom 20. April 2016 ergänzt, eine indirekte Folge der von mir erwähnten Skandale. Die französischen Verwaltungsrichter „üben ihr Amt in völliger Unabhängigkeit, Würde, Unparteilichkeit, Integrität und Redlichkeit aus und verhalten sich so, dass jeder berechtigte Zweifel in dieser Hinsicht ausgeschlossen ist“.4 Sie „unterlassen alle Handlungen oder Verhaltensweisen öffentlicher Art, die mit der ihnen durch ihre Aufgaben auferlegten Zurückhaltung unvereinbar sind“5 und „dürfen sich nicht im Rahmen einer politischen Tätigkeit auf ihre Mitgliedschaft im Staatsrat oder in der Verwaltungsgerichtsbarkeit berufen“ 6. Die Verwaltungsrichter, die ausdrücklich aufgefordert sind, Interessenkonflikte zu vermeiden oder unverzüglich zu beenden7, müssen nun eine Erklärung über ihre Interessen abgeben und sich im Anschluss an ihren Amtsantritt einem Berufsethikgespräch unterziehen8. Dasselbe Gesetz vom 20. April 20169 verlieh der Ethikcharta, die ich 2011 ohne gesetzliche Grundlage verabschiedet hatte, durch Artikel L. 131-4 des Gesetzbuchs der Verwaltungsgerichtsbarkeit eine gesetzliche Grundlage und übertrug dem Vizepräsidenten des Staatsrats die Befugnis, diese Charta zu erlassen (nach Einholung von Stellungnahmen des Ethikkollegiums der
4 CJA, Art.-Nr. L. 231-1-1 (für Richter an Verwaltungsgerichten und Verwaltungsberufungsgerichten) und Art. L. 131-2 (für die Mitglieder des Staatsrats).
5 Ebd.
6 CJA, Art.-Nr. L. 231-1-1 (für Richter an Verwaltungsgerichten und Verwaltungsberufungsgerichten) und Art. L. 131-2 (für die Mitglieder des Staatsrats)
7 CJA, Art.-Nr. L. 231-4 (für Richter an Verwaltungsgerichten und Verwaltungsberufungsgerichten) und Art. L. 131-3 (für die Mitglieder des Staatsrats)
8 CJA, Art.-Nr. L. 231-4-1 (für Richter an Verwaltungsgerichten und Verwaltungsberufungsgerichten) und Art. L. 131-7 (für die Mitglieder des Staatsrats)
9 CJA, Art. L. 131-4: „Der Vizepräsident des Staatsrats erstellt nach Anhörung des Ethikkollegiums der Verwaltungsgerichtsbarkeit eine Ethikcharta, in der die ethischen Grundsätze und bewährten Praktiken festgelegt sind, die für die Ausübung der Funktionen eines Mitglieds der Verwaltungsgerichtsbarkeit spezifisch

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