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Die Grundrechte nach dem Vertrag von Lissabon (*)

Stefan Derpa, Regierungsrat

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen!

I. Einleitung

Als ich im Sommer die Einladung zu unserer Veranstaltung im elektronischen Briefkasten fand, kam mir bei dem Thema „Die Grundrechte nach dem Vertrag von Lissabon“ – ehrlich gestanden – zunächst die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in den Sinn, also der Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene. An das Verhältnis zwischen Unionsrecht und nationalen Grundrechten, das hier Gegenstand sein soll, habe ich nicht gedacht. Meinen deutschen Kollegen unter Ihnen ist es womöglich ebenso gegangen. Das liegt nun gewiss nicht daran, dass diese Frage bei uns nicht diskutiert würde – dazu gibt es seit über 40 Jahren Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof. Nein, der Grund liegt wohl darin, dass sich die umstrittenen Fragen im Verhältnis von Unionsrecht und nationalen Grundrechten aus unserer Sicht maßgeblich nach nationalem Verfassungsrecht richten, so dass wir dafür eher nach Karlsruhe als nach Europa schauen. Die deutsche Rechtsordnung öffnet sich zwar durch Artikel 23 GG, der die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union erlaubt, gegenüber dem Unionsrecht. Dieses erlangt in Deutschland aber eben nur über diese Brücke Geltung, und dort steht ein Wächter – das Bundesverfassungsgericht. Dieser Ansatz wird im Übrigen in unterschiedlichen Schattierungen von einer ganzen Reihe höchster Gerichte der Mitgliedstaaten geteilt, unter anderem dem Conseil d`Etat und der Corte costituzionale, wenn ich richtig informiert bin. Wenn wir betrachten, welche Änderungen sich aus dem Vertrag von Lissabon für den Anwendungsbereich der Grundrechte nach dem Grundgesetz ergeben, muss die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts daher den Ausgangspunkt bilden.

II. Der Anwendungsbereich der Grundrechte nach dem Grundgesetz bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon

a) Das Rangverhältnis zwischen den Grundrechten nach dem Grundgesetz und dem Gemeinschaftsrecht

Die Frage nach dem Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zu den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten stellte sich schon bald nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaften. Weite Teile des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts sind unmittelbar anwendbar, der Bürger kann sich vor dem nationalen Richter darauf berufen. Kollisionen zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht sind vorgezeichnet, womit sich die Frage nach dem Rangverhältnis der beiden Rechtsordnungen stellt. Im Wesentlichen wird sie von Europäischem Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht übereinstimmend dahin beantwortet, dass dem Gemeinschaftsrecht Anwendungsvorrang gegenüber nationalem Recht jeglichen Ranges, also auch gegenüber Verfassungsrecht und den Grundrechten, zukommt. Diesen Anwendungsvorrang muss jeder staatliche Richter beachten – eine ungewohnte Vorstellung für uns deutsche Richter, denn ein parlamentarisches Gesetz wegen Verstoß gegen das Grundgesetz verwerfen darf allein das Bundesverfassungsgericht. Nicht einig sind sich das Bundesverfassungsgericht und der Europäischer Gerichtshof jedoch in der Begründung des Vorrangs, was in Ausnahmefällen zu Konflikten um die Letztentscheidungsbefugnis führen kann.

Für den Europäischen Gerichtshof schließen die Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts und das Erfordernis seiner einheitlichen Geltung aus, dass ihm nationale Vorschriften, und seien es auch die Grundrechte oder Strukturprinzipien einer nationalen Verfassung, vorgehen. Das hat er in der Entscheidung „Internationale Handelsgesellschaft“ ausdrücklich festgestellt. Als Rechtsgemeinschaft könne die Gemeinschaft sonst nicht bestehen. Die Handlungen ihrer Organe können nach dieser Sichtweise allein nach dem Gemeinschaftsrecht beurteilt werden.

Das Bundesverfassungsgericht hingegen sieht den Grund für unmittelbare Anwendbarkeit und Vorrang des Gemeinschaftsrechts in dem Rechtsanwendungsbefehl des Art. 23 GG, der bereits genannten Brücke, die die deutsche Rechtsordnung gegenüber dem Gemeinschaftsrecht öffnet. Dieser Vorrang kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung hat zur Folge, dass sich Gemeinschaftsrechtsakte an den Grenzen des Artikels 23 GG messen lassen müssen. Solche Grenzen für die Übertragung von Hoheitsrechten sieht das Bundesverfassungsgericht in den Verfassungskerngehalten, zu denen der Grundrechtsteil des Grundgesetzes gehört. In seinem Solange I-Beschluss aus dem Jahre 1974 zog es daraus noch die Schlussfolgerung, dass sich in einem Normenkonflikt die Grundrechtsgarantien des Grundgesetzes durchsetzen, solange die Gemeinschaft über keinen kodifizierten Grundrechtskatalog verfüge, dessen Inhalt ebenso zuverlässig und für die Zukunft unzweideutig feststehe wie der des Grundgesetzes. Diese Rechtsprechung wurde im In- und Ausland heftig kritisiert, insbesondere im Hinblick auf die zu diesem Zeitpunkt schon weit fortgeschrittene Rechtsprechung des EuGH zu den Gemeinschaftsgrundrechten. In seinem Solange II-Beschluss aus 1986 hat das Bundesverfassungsgericht unter dem Eindruck dieser Kritik und der gewachsenen Grundrechtsjudikatur des EuGH seine Solange-Formel unter Aufgabe der Forderung nach einem kodifizierten Grundrechtskatalog ins Gegenteil verkehrt: Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere der Europäische Gerichtshof, einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisteten, der dem vom Grundgesetz unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleich zu achten sei – und davon ging der Senat aus – werde das Bundesverfassungsgericht abgeleitetes Gemeinschaftsrecht nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes prüfen. In dem Maastricht-Urteil von 1992 wurde diese Rechtsprechung bestätigt und von einem Kooperationsverhältnis gesprochen, in dem der Europäische Gerichtshof den Grundrechtsschutz gegen abgeleitetes Gemeinschaftsrecht in jedem Einzelfall garantiere und das Bundesverfassungsgericht sich deshalb auf eine generelle Gewährleistung des unabdingbaren Grundrechtsstandards beschränken könne. Daraus folgt, wie Karlsruhe in seinem Bananenmarkt-Beschluss aus dem Jahre 2000 klargestellt hat, dass Verfassungsbeschwerden und Vorlagen von Gerichten von vornherein unzulässig sind, wenn ihre Begründung nicht im Einzelnen darlegt, dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht mehr gewährleistet ist. Die zeitweilig diskutierte Frage, ob in jedem Einzelfall zu prüfen sei, ob es ein dem nationalen Grundrecht gleichwertiges Äquivalent auf Gemeinschaftsebene gebe, ist damit zu verneinen.

b) Das Verhältnis zum Recht der GASP/PJZS

Anders hat das Bundesverfassungsgericht jedoch das Verhältnis zwischen den Grundrechten nach dem Grundgesetz und dem Recht der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen beurteilt. In seinem Maastricht-Urteil hat es darauf verwiesen, die Zusammenarbeit in diesen Bereichen sei bewusst dem Völkerrecht zugeordnet worden und habe damit intergouvernementalen Charakter. Darauf gestützte Rechtsakte führten nur zu einer völkerrechtlichen Bindung der Mitgliedstaaten; in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbares und Vorrang beanspruchendes, die Grundrechte überlagerndes Recht setzten sie nicht. Verpflichteten Rechtsakte aus diesen Bereichen die Mitgliedstaaten verbindlich zu grundrechtserheblichen Eingriffen, könnten diese von der deutschen Gerichtsbarkeit voll überprüft werden.

2) Verbleibende Anwendungsbereiche für die Grundrechte nach dem Grundgesetz bei der Durchführung von Gemeinschaftsrecht

a) Bindung an deutsche Grundrechte bei der Umsetzung von Richtlinien

Allerdings verbleiben auch im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts Spielräume für eine Überprüfung deutscher Hoheitsgewalt an den deutschen Grundrechten. Aufgeworfen wurde die Frage zunächst bei der Umsetzung von Richtlinien in nationales Recht. Das Bundesverfassungsgericht hat wie folgt differenziert: Soweit der nationale Gesetzgeber bei der Umsetzung durch Gemeinschaftsrecht gebunden ist, können sich Betroffene allein nach Maßgabe der Solange II-Rechtsprechung auf deutsche Grundrechte berufen, Prüfungsmaßstab sind also praktisch nur die Gemeinschaftsgrundrechte. Soweit er jedoch nicht durch zwingende Vorgaben gebunden ist und Gestaltungsspielraum hat, ist eine uneingeschränkte Berufung auf die nationalen Grundrechte möglich. In seinem Urteil zum Europäischen Haftbefehlsgesetz hat Karlsruhe diese Grundsätze – noch unter der Geltung des Vertrags von Nizza – auf Rahmenbeschlüsse in der Polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen angewandt und das Gesetz über die Umsetzung des Europäischen Haftbefehls für nichtig erklärt. Der Gesetzgeber habe es versäumt, grundrechtlich geschützten Belangen bei der Umsetzung hinreichend Rechnung zu tragen und seine Spielräume grundrechtsschonend zu nutzen. Aufsehen erregt hat dieses Urteil vor allem deswegen, weil sich der deutsche Gesetzgeber dieser Spielräume offenbar nicht bewusst war, wie Abgeordnete des Bundestags in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht zu erkennen gaben.

Interessanterweise ergibt sich in diesen Bereichen damit nach unserer Auffassung eine Doppelung des Grundrechtsschutzes. Denn nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Richtlinien auch insoweit an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden, als sie Umsetzungsspielräume ausnutzen. Bei Unterschieden im Schutzniveau zwischen deutschem und europäischem Grundrecht ist die weitergehende Garantie maßgeblich.

b) Bindung an deutsche Grundrechte bei der Einschränkung von Grundfreiheiten

Eine solche parallele Anwendbarkeit von Gemeinschaftsgrundrechten und deutschen Grundrechten wird von der deutschen Literatur auch diskutiert, wenn der Staat Grundfreiheiten wie etwa die Dienstleistungsfreiheit beschränkt. Solche Beschränkungen können aus zwingenden Erfordernissen des Allgemeinwohls gerechtfertigt sein, müssen sich nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aber auch an den europäischen Grundrechten messen lassen. Diese Konstellation verdeutlicht ein schöner Fall aus Österreich aus 1997: Ein österreichischer Mitbewerber klagte vor dem Handelsgericht Wien gegen den Heinrich Bauer Verlag mit dem Ziel, den Verkauf der deutschen Zeitschrift „Laura“ in Österreich zu untersagen. Diese enthielt regelmäßig Kreuzworträtsel und andere Rätsel, die Einsender der richtigen Lösung konnten bis zu 5.000 DM gewinnen. Nach dem österreichischen Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb war es allerdings verboten, in periodischen Druckwerken Preisausschreiben anzubieten. Der Europäische Gerichtshof führte dazu aus, das Verbot beschränke den freien Warenverkehr. Die zur Rechtfertigung vorgetragenen Gründe seien daher auch an der Meinungsfreiheit zu messen, wie sie zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehöre. In Deutschland müsste sich eine solche Einschränkung nach überwiegender und überzeugender Auffassung in der Literatur gleichzeitig auch an den deutschen Grundrechten messen lassen, weil die Unionsgrundrechte hier bloß Mindestgarantien verbürgen.

3) Freimachen des Weges für eine Überprüfung nationaler Umsetzungsakte am Maßstab der deutschen Grundrechte durch Vorlage zum EuGH

Ein origineller Weg stand den Beschwerdeführern in dem Verfahren vor Augen, in dem das Bundesverfassungsgericht im März dieses Jahres über die deutsche Umsetzung einer Richtlinie entschied, die eine anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverbindungsdaten für sechs Monate, auch Vorratsdatenspeicherung genannt, zum Gegenstand hat. Sie waren der Auffassung, die zugrunde liegende Richtlinie verstoße gegen europäische Grundrechte, zudem fehle es an einer gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzgrundlage. Deshalb erstrebten sie eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof, damit dieser im Wege der Vorabentscheidung die Richtlinie wegen Verstoß gegen höherrangiges europäisches Recht für nichtig erkläre und den Weg freimache für eine Überprüfung des nationalen Umsetzungsakts am Maßstab der deutschen Grundrechte. Das Bundesverfassungsgericht sah dazu keine Notwendigkeit, hat aber in den Urteilsgründen eine solche Vorlage nicht ausgeschlossen.

4) Schutz der Grundrechte gegen ausbrechende Rechtsakte

Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle der mit Spannung erwartete Mangold/Honeywell-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juli 2010 erwähnt, auch wenn dieser nur mittelbar den Schutz der nationalen Grundrechte zum Gegenstand hatte. Hier erlaubte die Berufung auf die deutschen Grundrechte der Beschwerdeführerin, eine Kompetenzüberschreitung von EU-Organen zu rügen. Die Beschwerdeführerin machte geltend, durch ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts in ihrer grundgesetzlich geschützten Vertragsfreiheit verletzt zu sein. Das Bundesarbeitsgericht hatte unter Berufung auf den Europäischen Gerichtshof festgestellt, dass eine im Einklang mit dem damals geltenden Teilzeit- und Befristungsgesetz vorgenommene Befristung eines Arbeitsverhältnisses mit einem über 52jährigen Arbeitnehmer unwirksam sei. Das zu Grunde liegende Mangold-Urteil des Europäischen Gerichtshofs wiederum war in Deutschland auf harsche Kritik gestoßen, insbesondere wegen der Annahme eines allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes der Altersdiskriminierung. „Stoppt den Europäischen Gerichtshof“ hatte der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Bundespräsident und Präsident des Grundrechtekonvents Roman Herzog in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung gefordert.

Die Mehrheit des zweiten Senats hingegen sah darin keine verfassungsrechtlich zu beanstandende Kompetenzüberschreitung. An dem in den Urteilen zum Vertrag von Maastricht und Lissabon angenommenen Anspruch, Handlungen der Europäischen Organe auf Kompetenzüberschreitungen zu überprüfen, hielt sie zwar fest. Die Kontrolle dürfe aber nur europarechtsfreundlich ausgeübt werden, damit die einheitliche Geltung des Unionsrechts nicht gefährdet werde. Daher müsse der Kompetenzverstoß offensichtlich sein und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Europäischer Union zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führen. Jedenfalls an der Kompetenzverschiebung fehlte es hier nach Auffassung der Senatsmehrheit, weil mit der Altersdiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG das Verbot der Altersdiskriminierung bereits verbindlich gemacht worden war, auch wenn die Umsetzungsfrist zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch lief. Der ehemalige Verfassungsrichter Grimm hat dazu angemerkt, sollte das Gericht auf einen noch deutlicheren Fall fragwürdiger Kompetenzgrundlagen warten wollen, müsse es wohl lange warten.

III. Änderungen durch den Vertrag von Lissabon

Was hat sich nun an diesem recht komplizierten Gebäude durch den Vertrag von Lissabon geändert?

a) Festhalten an der Solange II-Formel

Mit dem Vertrag von Lissabon erkennt die Union die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als rechtsverbindlich und mit den Verträgen gleichrangig an. Daneben bestehen nach Artikel 6 Absatz 3 EUV die Grundrechte, die sich aus den allgemeinen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben und als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind – also die bisherigen ungeschriebenen Grundrechte – fort. Damit verfügt die Europäische Union erstmals über einen geschriebenen Grundrechtskatalog, wie ihn das Bundesverfassungsgericht in seinem Solange I-Beschluss gefordert hat. Zudem ist dem Vertrag von Lissabon eine Erklärung Nr. 17 der Regierungskonferenz beigefügt. Dort heißt es: „Die Konferenz weist darauf hin, dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben.“

Da liegt es nicht fern, dass in der Verfassungsbeschwerde gegen die deutschen Zustimmungsgesetze zum Vertrag von Lissabon geltend gemacht wurde, mit dieser Erklärung habe die Bundesrepublik den Vorrang des Unionsrecht unbedingt anerkannt. Mit der Anerkennung der Grundrechtecharta entfalle zudem die Garantenstellung, die das Bundesverfassungsgericht gemäß der Solange II-Rechtsprechung für den Grundrechtsschutz innehabe.

Dem widersprach das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009. Mit der Erklärung zum Vorrang bestätige die Bundesrepublik Deutschland allein die geltende Rechtslage in der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht. Es bleibe bei einem Vorrang kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung, die Erklärung könne die verfassungsrechtlich gebotene Reservekompetenz des Bundesverfassungsgerichts daher nicht berühren. Im Übrigen bekräftigte es seine Solange II-Rechtsprechung.

b) Kontroverse um eine Aufwertung nationaler Grundrechte

Ein Teil der deutschen Literatur sah das Pendel gar in die andere Richtung schwingen. Anlass der Kontroverse war Artikel 53 der Grundrechtecharta. Danach ist, verkürzt wiedergegeben, keine Bestimmung der Charta als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen, die in dem jeweiligen Anwendungsbereich durch das Recht der Union, das Völkerrecht, insbesondere die EMRK, sowie durch die Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannt werden. Teilweise wurde diese Bestimmung dahingehend interpretiert, die Grundrechte der Mitgliedstaaten formulierten Mindeststandards. Wenn der Grundrechtsschutz nach der Europäischen Grundrechtecharta dahinter zurückbleibe, wäre demnach auch Unionsrecht an den nationalen Grundrechten der Mitgliedstaaten zu messen. Die wohl überwiegende und meiner Auffassung nach überzeugende Ansicht geht hingegen davon aus, dass die Bestimmung Grundrechtsnormen anderer Rechtsordnungen ihre Geltung allein dort belässt, wo der Vorrang des Gemeinschaftsrechts nicht in Frage gestellt wird. Nationale Grundrechte bleiben also in den bereits erwähnten Fällen unberührt, in denen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Richtlinien Spielräume haben oder in denen sie Grundfreiheiten einschränken. Ein Rückfall in das „gemeinschaftsrechtliche Mittelalter der Solange I-Rechtsprechung“, also eine Relativierung der einheitlichen Geltung des Gemeinschaftsrechts, ist hingegen nicht Sinn und Zweck der Vorschrift.

c) Ausdehnung der Solange II-Rechtsprechung auf die GASP und PJZS?

Der Vertrag von Lissabon weitet die Kompetenzen der Union allerdings nochmals aus. Das Unionsrecht wird in weitere Bereiche vordringen und die deutschen Grundrechte praktisch überlagern. Zudem löst der Vertrag die bisherige Säulenstruktur der Europäischen Union auf. Die Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen wird in den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union überführt und erhält supranationalen Charakter. Daher wird in der Literatur angenommen, dass nunmehr auch hier nationale Grundrechte nach Maßgabe der Solange II-Rechtsprechung hinter Unionsrecht zurücktreten. Zugleich wird darauf hingewiesen, dass in diesem sensiblen Bereich der unionsrechtliche Schutzstandard hinter dem deutschen zurückbleibe und vor Herausforderungen stehe.

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik hingegen bleibt auch nach dem Vertrag von Lissabon weitgehend intergouvernemental geprägt. Das Bundesverfassungsgericht führte dazu in seinem Lissabon-Urteil aus, die Erklärung Nr. 17 sei auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nicht anwendbar, ein unmittelbarer Durchgriff in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nicht vorgesehen. In der Literatur wird daher davon ausgegangen, für eine bloße Reservekompetenz des Bundesverfassungsgerichts im Sinne der Solange II Rechtsprechung sei hier kein Raum.

IV. Zusammenfassung und Ausblick

Festhalten lässt sich danach, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, dass es aus deutscher Sicht nach wie vor einen potentiellen Konflikt zwischen dem Geltungsanspruch unserer nationalen Grundrechte und dem Unionsrecht gibt. Dieser ist aber eher theoretischer Natur. Der ehemalige Verfassungsrichter Prof. Steiner, für Humor und Liebe zum Fußball bekannt, hat dies auf die anschauliche Formel gebracht, das Bundesverfassungsgericht habe die Rolle eines „Edelreservisten, der kaum die Chance zum Spieleinsatz bekommt.“ Aber auch in dieser Funktion sind das Bundesverfassungsgericht und andere höchste Gerichte der Mitgliedstaaten wohl nicht ohne Einfluss auf den Europäischen Gerichtshof und mahnen, nationale Befindlichkeiten ernst zu nehmen. Weiterhin haben wir gesehen, dass die Änderungen durch den Vertrag von Lissabon für unsere nationalen Grundrechte als nicht umstürzend angesehen werden, wenn auch einige Fragen neu aufgeworfen sind. Wir werden also auch weiterhin nach Karlsruhe schauen.

Damit sollten wir uns allerdings nicht begnügen, denn Karlsruhe selbst schaut auch nach Europa. So hat das das Bundesverfassungsgericht in zwei neueren Verfahren zur Unterstreichung der Bedeutung des Anspruchs auf rechtliches Gehör als deutsches Grundrecht auf Art. 47 der Europäischen Grundrechtecharta verwiesen, in dem der Anspruch auf ein faires Verfahren niedergelegt ist. Der Staatsrechtslehrer Eckart Klein hat bereits 2000 bei einer Anhörung der EU-Ausschüsse des Deutschen Bundestages und des Bundesrates prophezeit, dass die europäischen Grundrechte allein kraft ihrer Existenz Einfluss auf die Auslegung nationaler Grundrechtsbestimmungen nehmen und zu einer gewissen Vereinheitlichung führen werden. Andererseits hat der Europäische Gerichtshof die Gemeinschaftsgrundrechte auf der Grundlage der nationalen Grundrechte, unserer gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen entwickelt. Und nach Art. 52 Abs. 4 der Grundrechtecharta stellen diese auch für die Grundrechtecharta eine Erkenntnisquelle dar. Die Wechselwirkungen zwischen nationalen und europäischen Grundrechten bleiben also erhalten. Dazu passt es, dass nach einer Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vor knapp einem Monat Richter des Europäischen Gerichtshofs unter der Leitung seines Präsidenten Vassilios Skouris ihre Kollegen am Bundesverfassungsgericht besucht und mit ihnen unter anderem den „Europäischen Gerichtsverbund“ einträchtig miteinander diskutiert haben. Diesem Geist der Kooperation dürfte wohl die Zukunft gehören. Denn, so wurde es in der Literatur charmant ausgedrückt, für dramatische Letztentscheidungskonflikte sind Richter zu klug.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit

 

Das Manuskript kann in seiner Original-Formatierung hier als PDF-Datei (119 kB) heruntergeladen werden.

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